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gear-special
Modeling
Endlich sieht man mal, wie es
wirklich geht: die Vermessung
des Marshalls
MAKING OF GUITAR RIG 4
Wie kommt der Plexi in den Rechner?
Schöne neue Welt, die solche Software hervorbringt! Ein riesiges Setup für
mehrere Kiloeuro auf Knopfdruck – kein Problem für das neue Guitar Rig 4 von
Native Instruments. Aber wie kommt der Amp nun genau in den Rechner?
Dennis Noppeney, der Chefentwickler von
Guitar Rig, führt mich zur Rückseite des
Marshall JCM 800, der kopfüber und einge-
schaltet auf seinem Arbeitsplatz liegt. Am
Speaker-out hängt ein unscheinbarer Wider-
stand, der in einem mit Wasser gefüllten Plastik-
gefäß liegt, offensichtlich die Kappe eines Fünf-
zigerpacks CD-Rohlinge. „Die Kollegen kommen
schon mal vorbei und jagen ihre Riffs hier durch.
Das Ding wird so heiß, dass das Wasser anfängt zu
dampfen.“ Schnell stellt sich allerdings heraus,
dass Noppeney nicht nur mit Wasser kocht. Ich bin
mittendrin in den Geheimnissen des Modeling.
Nullen und Einsen bestimmen das Innenleben
eines Computers, Röhren, Widerstände und Hitze
dagegen das eines Verstärkers. Strenge Logik
(sofern man nicht gerade ein neues Betriebssystem
ausprobiert) auf der einen Seite, Nichtlineari-
täten, Übergangsverzerrungen und allgemeines
Chaos auf der anderen. Wie geht das zusammen?
Dennis Noppeney fasst es so zusammen: „Man
muss dem Rechner sauber programmierten
Schmutz unterschieben.“
Die ganz genaue Umsetzung dieses Schmutzes
ist allerdings das Geheimnis der Programmierer,
aber einen kleinen Einblick konnten wir dennoch
gewinnen. Bei allen Firmen, die sich mit Modeling
beschäftigen, heißt es, dass die Verstärker genau
durchgemessen und dann digitalisiert werden.
Bei Native Instruments sieht das folgendermaßen
aus: Der Verstärker liegt offen auf dem Tisch, der
Schaltplan daneben. Nun werden Impulse durch
den Verstärker geschickt und mit einem Oszillos-
kop gemessen, was mit diesen Impulsen passiert.
Das Ergebnis wird dann programmiert.
Zu abstrakt? Das war es mir auch. Wenn man
tiefer bohrt, kommt man zu den essenziellen
Bestandteilen einer Verstärkerschaltung. Eines
dieser Bestandteile ist das sogenannten RC-Glied.
Es besteht aus einem Widerstand und einem
Kondensator, und der Frequenzgang kann mittels
einer sogar relativ einfachen Formel genau
Peters Mischpult für die ver-
schiedenen Mikrofonsignale
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Dennis Noppeney, Chefentwickler von Guitar Rig 4, mit den Vorgängerversionen
berechnet werden: 1/(s+1). Damit wird der
Frequenzgang beschrieben. Wer es noch genauer
wissen will, kann ja mal bei Wikipedia
nachschlagen. Was man in eine Formel fassen
kann, das kann man auch in ein Programm
umsetzen. Noppeney verwendet die Programmier-
sprache C++. „Die ist sehr nahe dran am Kern
der Maschine.“ Ganz trivial scheint die Umset-
zung auch dieser einfachen Schaltung jedoch
nicht zu sein, denn den genauen Code rückt er
nicht heraus.
Auf diese Weise wird der komplette Verstär-
ker erfasst und in Formeln „nachgebaut“. Die
einzelnen Komponenten werden allerdings noch
nicht in C++ programmiert, sondern erst mal in
der hauseigenen modularen Software Reaktor 5,
was einfacher ist, da man hier mit fertig
programmierten Modulen arbeiten kann, an
denen kleine Veränderungen einfacher zu
realisieren sind. Ein theoretisch erfasster
Verstärker hat nämlich noch nichts mit dem
wirklichen Leben zu tun.
Noppeney schickt nun ein Audiosignal durch
den Verstärker (um genau zu sein: einen sehr
kurzen Sweep, der periodisch wiederholt wird).
Dann sieht er sich an, was die zuvor theoretisch
erfassten Elemente mit dem Frequenzgang tat-
sächlich anstellen.
Der Istzustand: oben der eingespeiste Impuls, unten die Reaktion des Amps
dieser noch statischen Version alle zufrieden
sind. Und auch hier ist der Programmierer voll
gefordert, denn eine Übersetzungssoftware von
die der ersten Guitar-Rig-Version.“ Das alles
geschah übrigens immer noch in Reaktor. Die
Umsetzung in C++ erfolgt erst dann, wenn mit
Immer wieder tweaken
Spätestens hier beginnt die Kunst, denn nun
muss die Formel so lange ergänzt werden, bis der
errechnete Frequenzgang dem realen genau
entspricht (ganz zu schweigen von Kleinigkeiten
wie der Phasenlage). Wie solche Ergänzungen
aussehen? Genau hier liegt die Kunst eines
gelungenen Verstärkermodels, und das bleibt als
Firmengeheimnis natürlich erst recht im Ver-
borgenen.
Nun wird probegehört: Rechner gegen Amp.
Und wieder wird korrigiert („tweaken“ nennt
Noppeney das – eines seiner Lieblingswörter). So
lange, bis das Ergebnis die kritischen Ohren der
Gitarristen zufrieden stellt. Oder bis der Rechner
an seiner Obergrenze angekommen ist.
„Man kann natürlich beliebig fein arbeiten,
indem man immer kleinere Ausschnitte aus dem
Frequenzgang bearbeitet“, erklärt er. „Das ist
zum einen eine Zeitfrage, zum anderen aber auch
von der Rechnerleistung abhängig. Deshalb
klingen die heutigen Models auch viel besser als
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Modeling
Lastwiderstand und Nebelmaschine in einem
Reaktor auf C++ oder gar direkt auf
Maschinencode kann man dafür leider nicht
nehmen, auch wenn es sie gäbe.
Denn oft müssen Tricks gewählt werden, die
so ein Compiler nicht kennt und daher auch nicht
Klingt nur gut, wenn das Mikro auf den Millimeter genau ausgerichtet ist
benutzt. Ob es dabei schon mal zu einem Bug,
also einem Fehler gekommen ist, der sich dann
als Glücksfall erwies? „Manchmal passiert es
schon, dass man etwas übersieht, und wenn man
sich das Ganze anhört stellt man fest: Das klingt
ja ganz gut“, mein Noppeney. „Das ist dann der
Dreck, der sich im Programm widerspiegelt.
Allerdings: Sauber programmiert muss es
dennoch sein.“
Jürgen Richter
Peter Weihe und Guitar Rig 4
Besonderes Augenmerk der neuen Guitar-Rig-Version lag
neben einigen neuen Modellen auf der Mikrofonierung des
Lautsprechers. Dafür haben sich die Berliner mit Peter Weihe,
dem bedeutendsten Studio-Gitarristen Deutschlands, jede
Menge Know-how ins Boot geholt.
Weihes Studio befindet sich in Norderstedt bei Hamburg. Neben
den begehrtesten Jahrgängen von Les Pauls und Strats sind
dort auch 60 Jahre Amp-Geschichte aufgebaut. Inmitten dieser
beinahe museumsähnlichen Atmosphäre sitzen Guitar-Rig-Chef
Patrick Arp und Peter Weihe und arbeiten mit Hightech-Geräten
akribisch an den neuen Preset-Sounds. Dabei geht es vor allem
um das Mischungsverhältnis der virtuellen Mikrofone im neuen
Guitar Rig. Damit wären wir schon beim wichtigsten neuen
Feature von Guitar Rig 4: Native Instruments hat sich Peter
Weihes Signalweg als Blaupause für die Speaker-Simulation
und Mikrofonierung innerhalb des Plug-ins genommen.
Sein Sound setzt sich normalerweise aus vielen
verschiedenen Mikros zusammen, die je nach Bedarf zu
einem fertigen Signal über ein riesiges Vintage-Mischpult
zusammengemischt werden, bevor das Ganze seinen Weg
durch den Wandler nimmt. Während der Software-Schmied
vorm Rechner sitzt, spielt Peter ein paar Licks im Setzer-Stil
und gibt Anweisungen, welches Mikrofon dem Sound jetzt
noch das entscheidende „Silber“ in den Höhen gibt.
Zwischendurch gibt es immer wieder A/B-Vergleiche
zwischen der echten Anlage und der Umsetzung in Software.
Das Ergebnis ist verblüffend. Auch Peter Weihe ist sichtlich
begeistert. Aber selbst die besten Ohren sind irgendwann mal
müde, so dass wir in der Pause Gelegenheit haben, mit ihm über
die „Entwicklungshilfe“ für Native Instruments zu sprechen.
Welche Komponenten gehören zu einem guten Sound?
Peter Weihe:
Mir kommt es darauf an, dass man sowohl einen
definierten Grundton, als auch genügend Attack und Klarheit
hat. Das hängt von der Musikrichtung ab. Bei Heavy-Sounds
spielt beispielsweise das Attack eine besonders wichtige Rolle.
Hast du deinen Fuhrpark für das Sound-Design mit Native
Instruments zusätzlich erweitert?
Ja, ich habe beispielsweise eine Fender-Box, aber auch einen
Lautsprecher für moderne Sounds aufgestellt. Außerdem haben
wir noch mehr Mikros wie beispielsweise ein Neumann KM 54
verwendet. Dieses Mikrofon mag ich besonders wegen seines
warmen Klangs. Dadurch hat man mit dem neuen Guitar Rig
mehr Möglichkeiten, als ich selbst im Studio zur Verfügung habe.
Wir haben wirklich alle Eigenschaften des realen Equipments
auf die Modelle in der Software übertragen. Das Ergebnis ist
auch für mich absolut verblüffend. Leider [lacht].
Neues Herzstück des Guitar Rigs ist die Möglichkeit, die
Mikrofone vor den virtuellen Boxen zu mischen. Gibt es ein
grundlegendes Missverständnis, wenn es darum geht,
Gitarrenboxen zu mikrofonieren?
Viele Gitarristen und Produzenten vergessen, wo die
Gitarre eigentlich ihren Platz im Frequenzbereich haben
sollte. Entscheidend für die Gitarre ist der mittlere
Frequenzbereich. Man darf ein trockenes Gitarrensignal
nicht mit einem mehrfach komprimierten und fertig
gemasterten Gitarrensound von einer CD vergleichen. Das
ist auch das Problem, das viele Amp-Hersteller heute haben.
Sie werden von den Jungs genötigt, Verstärker zu bauen,
die klingen müssen wie auf einer fertigen Produktion. Leider
fehlt diesen neumodischen Amps aber das Entscheidende
an Ton in den Mitten.
Gerrit Hoß
Graue Eminenz der
Studiogitarristen: Peter
Weihe in seinem Reich
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