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Toneguide
Macht „größer” glücklicher?
Plastische Chirurgie für Sound-Hypochonder, Teil 1
Ist es ein Virus? Mit merkwürdiger Regelmäßigkeit werden manche Musiker
von einer Art Minderwertigkeitskomplex befallen und schleichen geduckt durch
unsere Sound-Praxis. Plaudern wir also heute aus dem Nähkästchen des
plastischen Chirurgen und geben ein paar Antworten auf die Frage aller Fragen:
„Doctor, can you make it bigger?“
Arne Frank
Man soll sich ja vor allzu simplen Verall-
gemeinerungen hüten, und dennoch: In den meis-
ten Fällen sind es Gitarristen, denen ein Stück
zum Glück zu fehlen scheint. Das Schlimmste
daran? Sie wissen in der Regel nicht, welches.
Kommt ein Bassist ins Sprechzimmer, legt er bei
der Beschreibung seines Wunsch-Sounds sogleich
alle Grobmotorik ab und stattdessen ungeahnte
sprachliche Präzision an den Tag. Die Jaco-Fans
träumen von sensibel säuselnden Näselmitten, die
Precision-Basser mögen’s punchy und knurrig,
und Metallarbeiter bestehen auf aggressiven,
körperbetonten Druck, der den Boden beben
lässt. Der Jazzer wünscht mehr „Holz“ unter den
Fingern, dem Reggae- oder Dub-Groover können
die „good vibrations“ gar nicht tief genug sein, und
der Funk-Techniker steht, als anspruchsvolles und
kalorienbewusstes Leckermäulchen, auf drahtig-
muskulösen Attack, sprich „fettreduzierte“, äh,
Daumenfreuden.
… hier nicht
Dicke Drähte für starke Nerven
Maßnahmenkatalog steht zwar nicht in den Ab-
rechnungsformularen der Krankenkassen, ist aber
gängig: Gezielte Korrekturen des Frequenzganges
beziehungsweise der Leistungsklasse an der An-
lage, eine andere oder zusätzliche Box sowie ein
paar neue Tonabnehmer oder eine dezent gepimpte
Elektronik.
Komplizierter wird es nur bei ausgewiese-
nen Allroundern oder besonders effektverliebten
„Sound-Patienten“. Aber auch bei diesen gestaltet
sich die Behandlung in aller Regel nicht übermäßig
problematisch. Sound justiert, Problem gelöst,
fertig. Offenbar genügt den Bassisten das Wissen
darum, dass sie am längeren Hebel, besser gesagt
Hals tätig sind.
Doch sind diese Selbstsicherheit und innere
Zufriedenheit tatsächlich im Bewusstsein be-
gründet, zu den „Longscale“-Trägern zu gehören?
Sollte das der Fall sein, käme es also doch auf
die Größe des Instruments an. Dann leiden wir
Gitarristen womöglich an einem kollektiven
„Shortscale“-Komplex. Stimmt die jüngere Ge-
neration ihre Äxte deshalb immer tiefer? Nein, so
simpel ist die Angelegenheit wohl nicht.
Shortscale-Komplex?
So pragmatisch sehen dann normalerweise auch
die Lösungen aus. Klar, wenn man weiß, wo und
warum es weh tut, lässt sich schneller heilen
oder zumindest eine Verbesserung erzielen. Der
Technik und Psyche
Warum aber tun wir Gitarristen uns dann so
schwer damit, unsere Wünsche und Vorstellungen
zu artikulieren? Nun, offensichtlich haben viele
Gitarristen gar keine Vorstellung davon, wonach
sie eigentlich suchen. Hinzu kommt häufig noch
ein weiteres Problem: Unsere rastlosen Sound-
Sucher wissen zumeist auch nicht so recht,
warum sie mit ihrem Sound unzufrieden sind.
Das scheint an der besonderen oder zumin-
dest „gefühlten“ Konkurrenzsituation zu liegen.
Irgendwie liegen wir Gitarristen doch meistens
Grundlagen der „Tieftontherapie“
Zugegeben, hier kommt es wirklich auf die Größe an
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mit irgendeinem Kollegen im Clinch – um
Pegel, Frequenzbereich oder Aufmerksamkeit.
Mindestens ist es der Typ am Saalmischer,
ansonsten mal der Keyboarder, mal der Sänger
und im ungünstigsten Fall ein weiterer Gitarrist.
Einige Situationen sind natürlich durchaus
technisch vollkommen nachvollziehbar, zum
Beispiel die des einsamen Jazz-Compers in einer
von Bläsern dominierten Swing-Bigband, um
ein plakatives und besonders einleuchtendes
Beispiel zu nennen. Andere Fälle sind weniger
offensichtlich, und nicht wenige erscheinen
teilweise sogar eher hypochondrischer Natur,
sind also in erster Linie pure Einbildung.
Warum auch immer: Gerade wir Gitarris-
ten neigen dazu, innere Bedürfnisse, (Ver-)
Spannungen oder musikalische Konflikte auf
unser Equipment zu projizieren. Da heißt es also
sauber auseinanderklamüsern, was nun eigent-
lich wohin gehört. Die erste Frage sollte daher
lauten: Was ist ein greifbares, rein technisches
Problem – und was hat lediglich mit dem
eigenen (auch musikalischen) Gleichgewicht oder
Wohlbefinden zu tun?
Dabei möchte ich hier überhaupt nicht ab-
streiten, dass gerade dieser letzte Punkt extrem
wichtig ist und in ganz erheblichem Maß über
die eigene musikalische Performance entscheidet.
Versteht mich also bitte nicht falsch! Aber
effektive Lösungen sind nur möglich, wenn man
auch an der richtigen Stelle operiert. Dazu gehört
zunächst mal eine möglichst exakte Diagnose.
Ich hör’ mich nicht
Ein echter „Running Gag“ sind beliebte Allge-
meinaussagen wie „Ich hör mich nicht“ oder
„Ich brauch’ einen fetten Sound“. Das ist dann
als Einstieg in die Diagnose in etwa so hilfreich,
wie wenn der Dreizentnermann der konstatiert:
„Ich hab’ halt Hunger, Herr Doktor“ oder die
alte Dame, die meint: „Wenn’s regnet, werd’ ich
nass.“ Braucht sie nur einen neuen Regenmantel?
Muss ihr Dach abgedichtet werden? Oder handelt
es sich gar um eine exotische Hormonstörung?
Aber Spaß beiseite: Ich will ja gar nicht
unterstellen, dass dahinter nicht wirklich durch-
aus ernsthafte Probleme stecken können. Nur:
So kommt man der Sache leider nicht auf die
Spur. Um dem Problem auf den Grund zu gehen,
muss man einfach tiefer graben und genauer
hinsehen.
Gehen wir das mal Punkt für Punkt durch.
Stichwort: Richtwirkung von Lautsprechern –
selbige haben je nach Bauform und Boxengehäu-
se unweigerlich einen ganz bestimmten Ab-
strahlcharakter. Diesen sollte man kennen und
idealerweise für sich nutzen, statt ziellos durch
den Raum zu schallen oder die Bandkollegen
zu fönen. Es gehört schließlich zu eurem
Kompetenzbereich als Musiker, dass ihr damit
umzugehen wisst. Postiert eure Anlage immer
so, dass ihr selbst sie am besten und direktesten
hört. (Nähere Infos dazu findet ihr zum Beispiel
im Toneguide der Ausgabe 2/07.)
Die Box auf der Bühne oder im Proberaum ist
gewissermaßen immer auch der eigene Monitor –
zumindest solange man nicht ausschließlich mit
virtuellen Amp- oder DI-Lösungen beziehungs-
weise einem In-ear-System arbeitet.
Sammelwut gegen den Shortscale-Komplex?
Essenzielles Werkzeug …
… oder Egoprothese?
Eigen-Monitoring statt Eigentor
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Anhieb die gleiche Sprachebene findet, gebt nicht
gleich auf. Dann sollte es klappen. Der Mann
oder (in bemerkenswert seltenen Fällen) die Frau
am Mischpult sind nämlich keine Idioten, die
euch nicht verstehen wollen. Sie betrachten eure
Musik einfach nur analytischer und technischer,
was eben ihre Ausdrucksweise prägt.
Das gilt aber für eure, die Sprache des
„Künstlers“ ganz genauso. Außerdem ist der
wichtigste Job am Pult, das gesamte Klangbild
im Auge zu behalten. Die Leute, die dort arbeiten,
können also naturgemäß nicht übermäßig viel
Zeit darauf verwenden, den Gitarristen besonders
herauszustellen, um ihn rundum glücklich zu
machen. Das muss man sich einfach mal klar
machen.
Gutes Hören – eine Frage des Standpunktes
Auch auf großen Bühnen ist gutes Monitoring
extrem wichtig. Dennoch ist die Anzahl eigens
abmischbarer Monitorwege begrenzt.
Platz da, bitte
Nächster Problempunkt für eine schlechte
Ortung des eigenen Signals sind häufig
Überlagerungseffekte. Das fängt schon beim
Arrangement an – wenn etwa ein zentrales
funky Lick verzweifelt gegen ein hektisches
Becken-Crescendo anspielt –, hat aber auch eine
technische Seite. Wer die Gitarre gern extrem
tief stimmt, darf sich nicht wundern, wenn er
zunehmend mit dem Frequenzbereich von Bass
oder teilweise sogar den Toms des Schlagzeugers
aneinandergerät. Da muss man sich ernsthaft
überlegen, ob man besser umarrangiert, um sich
eben nicht permanent gegenseitig in die Parade zu
fahren, oder ob man versucht, sich frequenzmäßig
so weit von den übrigen abzugrenzen, dass es
trotzdem funktioniert.
Extrem schwierig wird es immer, wenn
man einen Keyboarder oder einen zweiten
Gitarristen in der Band hat. Weil man sowohl als
Harmonie- wie auch als Soloinstrument exakt
den gleichen Frequenzbereich beansprucht,
muss man sich unbedingt absprechen, wer wann
in den Vordergrund darf. Das ist in erster Linie
eine Frage der Spieldisziplin. Gerade bei einem
undisziplinierten Keyboarder kann das extrem
frustrierend werden, da durch die zahllosen,
häufig sehr unterschiedlichen Sound-Optionen
und den enormen Frequenzbereich, den ein
Keyboard abdecken kann, praktisch keine klang-
lichen Nischen übrig bleiben.
Lässt der Kollege nicht mit sich reden, hilft
eigentlich nur noch eine räumliche Abgrenzung.
Nein, nicht gleich aus der Band aussteigen,
Der Mischer war schuld
Klar, in solchen Fällen hängt natürlich alles
am Mischer, und es hilft letztlich nur, eine
optimale Kommunikation zwischen Musiker
und Mixtechniker anzustreben. Das mag
zwischenmenschlich manchmal gar nicht so
einfach sein, ist aber unabdingbar. Dass eure
Anlage selbst ein qualitativ hochwertiges Signal
anliefert, mit dem man dann auch vernünftig
arbeiten kann, sollte (hoffentlich) ohnehin
selbstverständlich sein. Noch mal deutlicher:
Redet miteinander, und zwar freundlich, höflich
und möglichst sachlich. Auch wenn ihr nicht auf
Der Mischer hat alle Hände voll zu tun, also...
… gebt dem Mann am Pult nicht die Schuld
Seite an Seite mit den Keys erfordert Disziplin
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Gelegentlich hat man es auch mit dem
gegenteiligen Problem zu tun, und die Location
scheint den Sound regelrecht zu verschlucken.
In engen, aber weitläufigen Clubs (vor allem
wenn der Laden voll wird und das Publikum
selbst quasi als „Dämmmaterial“ fungiert) oder
auf Open-Air-Bühnen kann man das erleben.
Dreht man einfach lauter auf, bleibt der Sound
undifferenziert und wird in der Regel nicht
besser. Praktikabler ist es, sofern vorhanden,
den Presence-Regler oder das Middle-Poti
etwas weiter aufzudrehen, um euren Ohren die
Frequenzen zu gönnen, die es für die Ortung und
tonale Erkennung am dringendsten benötigt.
Zu guter Letzt noch ein Hinweis an die un-
verbesserlichen Vertreter der „Lauter-ist-geiler“-
Fraktion: Wer mit seiner Band in Orkanlautstärke
probt, um das Fullstack und die Röhrenendstufe
richtig auszufahren, und deshalb Ohrstöpsel
trägt (Gott sei Dank, zumindest das!), braucht
sich nicht zu wundern, dass ihm sein Sound
dann gar nicht mehr so super gefällt.
Egal, welche Stöpselmodelle ihr tragt: Die
Pegeldämpfung ist immer frequenzabhängig
und „weicht“ deshalb den wahrgenommenen
Sound mehr oder weniger deutlich auf. Versucht
also lieber mal, ob es nicht doch besser klingen
könnte, wenn alle insgesamt deutlich leiser
aufspielen und man dann eben keine Ohrstöpsel
braucht. Noch mal anders: Stellt euch vor, euer
Fernseher würde so hell strahlen, dass man nur
mit einer starken Sonnenbrille davor sitzen
könnte, ohne auf Dauer zu erblinden. Würde das
zu sehende TV-Bild dadurch wirklich besser? Nur
so ein Gedanke ...
Teamplaying: Clever kombiniert …
… klingt’s besser
sondern sich eben im Proberaum und auf der
Bühne möglichst am anderen Ende postieren und
die eigene Anlage optimal ausrichten.
Teamplayer gesucht
Bei zwei Gitarristen ist es unbedingt sinnvoll,
den eigenen Sound entsprechend aufeinander
abzustimmen. Klingt eine Gitarre oder Anlage
besonders fett oder verzerrt, sollte die andere
cleaner und knackiger justiert sein. Oder falls
einer den Downstroke-Part mit abgesenkten
Mitten, donnernden Bässen und scharfem Attack
runterhämmert, empfiehlt sich für die zweite
Gitarre ein dickerer, mittigerer Sound mit weniger
Schärfe und Tiefdruck.
In dieser Konstellation darf man Anlage
Nummer zwei auch mehr Gain gönnen,
während die erste sparsamer mit der Verzerrung
umgehen sollte. So bleibt einfach mehr Dynamik
erhalten. Denn wenn beide auf demselben Fre-
quenzbereich auch noch mit einem ähnlichen
Sound herumreiten, klingt es nicht druckvoller,
sondern in der Regel lediglich matschiger.
So etwas funktioniert allenfalls bei extrem
gut eingespielten und entsprechend „tighten“
Gitarrenduos.
Im Metal-Sektor hört man das häufiger, aber
das ist eine Kunst für sich. Dabei muss man
nämlich nicht nur sich selbst, sondern auch
den Teampartner optimal hören können. Die
Monitoring-Probleme verschärfen sich also.
Beim typischen Gitarrendoppel herrscht des-
halb meist eine rigorose räumliche Trennung
vor, um die beiden Signale möglichst sauber
auseinanderzuhalten.
Im Zweifelsfall möglichst wenig Effekte
Lebendes „Dämmmaterial“ schluckt auch Sound
Süßer die Röhren nie klingeln … und die Ohren
Deshalb: am richtigen Knopf drehen!
Weniger ist mal wieder mehr
Nicht selten steht und spielt man auch auf stark
vibrierendem Untergrund. Vor allem die Bässe
machen Probleme und schaukeln sich auf. Je
lauter das Ganze wird, desto verwaschener
wird euer Sound. Versucht in diesem Fall, eure
Anlage beziehungsweise Lautsprecherbox etwas
erhöht aufzustellen, um die Basskopplung mit
dem Boden zu unterbinden. (Aber bitte auf
Standfestigkeit achten!)
Reicht diese Maßnahme nicht aus, muss man
am Amp ein paar Bässe absenken oder erneut
den Presence-Regler bemühen, der generell
eine fokussierende, straffende Wirkung hat. In
jedem der eben beschriebenen Fälle schadet es
auch nicht, möglichst nahe an die eigene Anlage
heranzurücken, um den negativen Einfluss der
Räumlichkeiten zu minimieren.
Im Prinzip eine gute Idee – aber leiser wäre doch
besser
Raum für Probleme
Selbstverständlich gibt es noch weitere Gründe,
warum man sich unter bestimmten Gegeben-
heiten nicht ausreichend hört. Manchmal ist
ein Raum so reflektionsfreudig, dass der Sound
komplett verschwimmt. Dann deaktiviert man am
besten erst mal sämtliche Delay- und Halleffekte.
Modulationseffekte weichen den Sound immer
mehr oder weniger stark auf, sollten daher
ebenfalls abgeschaltet oder wenigstens sehr
vorsichtig dosiert werden.
Klarer Kopf, klarer Vorteil
Gründe gibt es viele, warum man mit sich und
seiner Sound-Welt unzufrieden sein kann. Gar
nicht so einfach, da den Überblick zu behalten.
Aber deshalb muss man auch nicht gleich
zum Psychiater auf die Couch. Eine nüchterne
Selbstanalyse reicht aus.
In der nächsten Folge betrachten wir noch ein
paar weitere ganz praktische Maßnahmen, damit
die innere und äußere (Sound-)Balance wieder
stimmt. So, jetzt aber ab zum Yoga-Kurs!
Arne Frank
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