INTERVIEW: DAS GEZEICHNETE ICH
© PPVMEDIEN 2010
Das Gezeichnete Ich, wer soll das denn sein?
So etwas hört man momentan sicher noch oft.
Doch das wird sich schnell ändern, denn nach
Touren mit den Pet Shop Boys oder Ich+Ich
und dem Debütalbum „Das Gezeichnete Ich“
wird DGI-Mastermind Henry im Herbst mit
A-ha auf große Deutschland –Tour gehen.
Wir trafen ihn zum Interview.
FOTO: EMI MUSIC/ANDREAS MÜHE
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ein Name ist Henry, und er
wohnt in Berlin. In seinem Vi-
deo zur Hitsingle „Halleluja“
zieht er einen Spiegelberg hinter sich
her. Auf den Fotos von Starfotograf
Andreas Mühe lässt er sich inmitten
wunderschöner Bergwelten inszenie-
ren. Ansonsten weiß man nicht viel
über den Mann mit dem gut gegelten
Seitenscheitel, der hinter dem ele-
ganten Deutschpop-Act Das Gezeich-
nete Ich steckt. Und das ist durchaus
so gewollt. Denn ein bisschen Das Ge-
zeichnete Ich steckt in uns allen, wie
der Musiker im SOUNDCHECK-Inter-
view verrät.
SOUNDCHECK: Du bist im Frühjahr als
Support von Ich+Ich getourt. Fühlst du
dich als Popstar auf der Bühne?
Henry:
Als Popstar? Darüber habe ich
noch nie nachgedacht. Ich glaube, ich
fühle mich als „Das Gezeichnete Ich“ auf
der Bühne.
SC: Und wie fühlt sich das genau an?
Henry:
Das ist immer unterschiedlich. Bei
Ich+Ich war es natürlich psychisch ein bisschen
fordernder, weil da nur ich auf der Bühne stand,
ein Klavier und davor 10.000 Leute. Das ist eine
andere Situation als wenn ich mit meiner Band
auf ein paar Besucher treffe. Bei so großen Kon-
zerten ist man kurz vorher schon aufgeregt, aber
auch konzentriert. Mittlerweile gelingt es mir
manchmal, dass ich mich ganz in den Songs ver-
liere, was immer das Ziel ist. Denn ich will den
Leuten die Songs ja so wiedergeben, wie ich sie
geschrieben habe.
Auf eine großartig ausgeschmückte biographische Mär verzichtet das Gezeichnete
Ich. Nur so viel: Der Vater Deutscher, die Mutter Französin. Das Bilinguale als schö-
nes Fundament für den langen Marsch durch Kindheit und Jugend. Die musische
Ader von klein auf gefördert. Ein Autodidakt, für den Wissen das tägliche Brot ist,
der Schule und Studium rückblickend aber als „belanglosen Entwicklungsgang“
betrachtet. Der Produzent Alex Silva hat sich des Bohemien aus Berlin angenommen.
Zwei Jahre Arbeit haben sie gemeinsam in dieses Debütalbum gesteckt. Silva ist
übrigens der Mann, der Herbert Grönemeyer seit „Bleibt alles anders“ geholfen hat.
einer Thüringer Bratwurst länger mit Neil Ten-
nant (Gesang, Gitarre bei den Pet Shop Boys,
Anm. d. Red.) unterhalten. Er kennt sich in der
„Diesmal war es mir es wert,
meine Vision ganz auszuleben."
SC: Hast du schon Vorstellungen, wie sich
deine Liveshows entwickeln sollen?
Henry:
Ich möchte gerne noch das Klavier abge-
ben, damit ich nicht immer an einem Punkt ge-
fangen bin, sondern auf die Leute zugehen kann.
Das wird bestimmt passieren in künftigen Live-
shows, weil mir das fehlt. Ansonsten bin ich am
überlegen, was noch gut passen könnte, um das
Publikum jeden Abend zu verzaubern und in eine
andere Welt zu entführen. Da werde ich be-
stimmt noch etwas rumprobieren müssen. Ich
lerne da täglich.
SC: Im letzten Jahr warst du ja schon mit den
Pet Shop Boys unterwegs.
Henry:
Das sind super Typen. Ich habe mich bei
Kunstszene aus wie kein anderer. Er findet es
gut, was ich mache. Ich war damals schon mit
meinem Spiegelberg aus dem Video zu Gange,
das hat ihm wohl gefallen, weil er gesehen hat,
was da die Veranlagung ist. Das Riff von „Innen“
ging der Crew der Pet Shop Boys nicht aus dem
Kopf. Jetzt überlege ich wirklich, ob ich Scooter
mal frage, ob die eine Technoversion davon ma-
chen. Das wäre die erste Fünf-Viertel-Techno-
Version überhaupt.
SC: Gibt es eine Diskrepanz zwischen Das Ge-
zeichnete Ich und dir als Person?
Henry:
Nein, überhaupt nicht. Das bin ja ich. Da
ist keine große Diskrepanz. Ich bin tatsächlich
eines Tages aufgewacht, in den Proberaum ge-
kommen und habe gesagt: „Leute, ich bin Das
Gezeichnete Ich.“ Aber die kannten das von mir
schon. Jede Woche war ich etwas anderes. Aber
diesmal war es mir wert, meine Vision ganz aus-
zuleben. Ich habe dann tatsächlich aufgehört
mit meinem normalen Berufsleben. Und gebe
mich seither voll der Kunst hin.
SC: Was genau repräsentiert Das Gezeich-
nete Ich?
Henry:
In erster Linie natürlich mich als Künst-
ler. Mein Leben als Künstler. Meine Ups And
Downs. Meine guten, meine schlechten Seiten.
Und das alles zusammengepresst in ein erstes
Album. Ansonsten ist Das Gezeichnete Ich die
Bezeichnung eines Menschen als solchen, eine
Metapher eines Menschenbildes. Ich habe ge-
guckt, wo ist der Mensch, was kann er wissen,
was weiß er über sich, was ist sein neues Ich-
Empfinden? Daraus resultiert der empathische
Mensch. Und das ist für mich Das Gezeichnete
Ich. Eben einer, der natürlich fühlt. Der auch
das Gute will, der auch das Zusammenleben
will. Der Glauben und Hoffnungen hat, und
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Henry:
Sie sind in den letzten vier Jahren
entstanden, weil sie raus mussten, weil so viel
Input in mir war. Sie sind entstanden beim
Machen, beim tatsächlich jeden Tag diszipli-
niert arbeiten gehen. Wo mich meine Eltern
schon fragten: „Was machst du eigentlich
den ganzen Tag? “ Und bei Veröffentlichung
der Platte schließlich meinten: „Das hast du
jeden Tag gemacht? Das mache ich in fünf
Minuten!“
SC: Komponierst du die Stücke auf dem
Keyboard oder am Computer?
Henry:
Das ist unterschiedlich. Auch ob
erst der Text oder die Musik kommt, ist ver-
schieden. Am Anfang steht oftmals einfach
eine Melodie, vielleicht auch nur eine grobe
Idee oder ein Gefühl, das mir sagt, in wel-
che Richtung der Song gehen wird. Und
dann führe ich eigentlich nur noch aus. Ich
mache dann nur noch, was ich machen
muss. Das ist wie eine Leinwand, bei der
ich weiß, wie die Linien verlaufen sollen.
Aber nachdem der Song skizziert ist, be-
ginnt ja erst die jahrelange Arbeit. Das
funktioniert bei mir nach dem Michelan-
gelo-Prinzip: entwerfen, verwerfen, zer-
reissen, zerstören, wiederaufbauen, ent-
werfen. Und das immer wieder.
SC: Und du machst das alles alleine?
Henry:
Nein, ich verdanke dieses Album
auch ganz viel meinem Freundeskreis
und meinen Unterstützern. Ich stehe auf
den Schultern von Riesen. Was ich kon-
zeptionell skizzieren und arrangieren
kann, mache ich erst mal selbst. Dann
wird gefeilt. Dann kommen vielleicht
die Jungs vom Proberaum unten vorbei,
und wir spielen das zusammen ein und
gucken, ob das eine Verbesserung ist
oder nicht. Das Album ist ein Misch-
masch. Vieles habe ich alleine gespielt, anderes
mit der Band. Letztendlich ist das immer eine
Geschmacks- und Gefühlsfrage.
SC: Warum schreibst du mehr dunkle Lieder
als fröhliche?
Henry:
Das kriege ich aus dem Umfeld meines
Vater auch immer wieder zu hören: „Mach
doch mal das glücklichste Lied der Welt!“ Und
dann sage ich: „Papa, das finde ich einfach
null interessant. Dafür sind andere da.“ Auch
wenn für mich „High“ der total naive, schöne
Popsong ist. Der beschreibt einfach dieses
herrliche Gefühl, völlig drogenfrei durch Liebe,
was irgendwie aber auch eine Droge ist, auf
Wolke 9 geworfen zu werden. Diese Leichtig-
Das Gezeichnete Ich als
Support auf der A-ha
„Ending On A High Note“-
Farewell Tour 2010:
18.10.
19.10.
21.10.
22.10.
23.10.
25.10.
26.10.
28.10.
29.10.
München, Olympiahalle
Stuttgart, Porsche Arena
Nürnberg, Arena
Nürnberger Versicherung
Leipzig, Arena
Rostock, Stadthalle
Braunschweig, VW-Halle
Mannheim, SAP Arena
Hamburg, O2 World
Berlin, O2 World
hier, jetzt gerade in der BP-Krise, völlig ver-
zweifelt.
SC: Und „gezeichnet“ ist das Ich deswegen,
weil es ein Bild ist?
Henry:
Das könnte man meinen. Aber Das Ge-
zeichnete Ich ist natürlich auch vom Leben ge-
zeichnet. Mit all der Verzweiflung, Traurigkeit und
Fröhlichkeit, die uns in den letzten Jahren geprägt
haben. Deswegen bin ich ja auch Das Gezeichnete
Ich. Ich nehme das nur als Überschrift, als Titel-
blatt für eine neue Menschwerdung.
SC: Wie sind die Songs deines Debüts ent-
standen?
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Das Gezeichnete Ich „Das
Gezeichnete Ich“ (Capitol/EMI)
Anspruchsvolle deutsche Texte gepaart mit ge-
radezu klassischen Pop-Kompositionen – dafür
steht Das Gezeichnete Ich. Streicher und Piano-
Klänge untermalen die verträumt-melodischen
Songs des Berliner Liedermachers, bei denen
oftmals die Melancholie die Oberhand gewinnt.
Damit trifft er mitten ins Herz, ohne in die
Kitschfalle zu tapsen. Und ist in einem musika-
lischen Umfeld aus Blumfeld, Beatles und Serge
Gainsbourg am besten aufgehoben.
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tisch und interessant war. Dann ist er aber bei
mir hängen geblieben und ich bei ihm – zum
Glück! Das war dann der Punkt, wo ein Schott
aufging und auch die Industrie plötzlich sagte:
„Wow, der Typ ist der Richtige!“
SC: Alex Silva kennt man unter anderem als
Produzent von Herbert Grönemeyers „Mensch“.
Henry:
Herbert und ich nehmen im gleichen
Studio auf, insofern laufen wir uns auch oft über
den Weg. Er hat sich das auch live auf der
Ich+Ich-Tour angeguckt. „Lichtjahre“ ist sein
Lieblingssong, wie man so hört. Ansonsten sieht
er mich aber eher in den unmöglichsten Situati-
onen: Wenn ich im Trainingsanzug und mit
Chips-Tüte in der Hand nachts durch die Studio-
gänge schlurfe. Dann sagt Herbert: „Junge, läuft
doch bei dir.“ Viel Zeit haben wir aber nicht, uns
auszutauschen, denn er ist selber gerade mit sei-
nem neuen Album beschäftigt.
SC: Bevor du im Oktober mit A-ha auf Tour
gehst und dann eine eigene Headliner-Tour
spielst, nimmst du mit deinem Song „Du, Es
und Ich“ bei Stefan Raabs Bundesvision Song
Contest teil. Kostet dich das Überwindung?
Henry:
Ein wenig. Aber es ist auch eine gute
Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen. Ich
keit drückt der Song für mich aus. Darüber
musste ich nicht mal lange nachdenken, der ist
einfach passiert.
SC: Die Melodien sind sowieso nicht düster,
es sind eher die Texte.
Henry:
Musikalisch gesprochen ist vieles auch
eine Metamorphose, wenn ich aus dem Moll in
das Dur reingehe. Bei „Du, Es und Ich“ zum Bei-
spiel. Der Song ist in Moll, aber der düstere Re-
frain, der die Aussage transportiert, ist in Dur.
Ich habe bewusst sehr viel mit Brüchen gear-
beitet. Deswegen auch dieser kaputte, zerbro-
chene Spiegelberg im Video.
SC: Wie strategisch durchdacht ist deine
Musik?
Henry:
Die Musik kann nicht strategisch sein.
Die Musik kann nur das wahrhaftige Gefühl aus-
drücken, zumindest bei mir. Und manchmal ist
eine Düsterheit auch eine Form der Befreiung,
weil man sie erkennt. Viele kommen an und wei-
nen wirklich, wenn ich nach einer Show Auto-
gramme gebe. Das hätte ich jetzt nie gedacht.
Ich hätte erwartet, dass erst mal alle sehr cool
sind. Und ich mache ja etwas sehr Uncooles: Ich
will ja meine Gefühle preisgeben. Ich überwinde
ja einen Teil von mir, der vielleicht eine Mauer
war oder geblockt hat. Eine Freundin von mir
sagte diesbezüglich: Du hast dein Herz über eine
Mauer geworfen!
SC: Künstler sind oft bemüht, wahnsinnig au-
thentisch rüberzukommen. Gibt es eigentlich
Authentizität bei einem so durchgestylten
Projekt?
Henry:
Ich bin authentisch, ich lächle nur nicht
gerne. Und mit den Videos und der Kunst drum-
herum möchte ich die Menschen in eine andere
Welt führen, auf eine Reise mitnehmen. Die Zu-
schauer sollen etwas mitnehmen durch die Mu-
sik und die Performance. Ich sehe Das Gezeich-
nete Ich schon als Gesamtkunstwerk. Aber das
bin natürlich trotzdem 100 Prozent ich. Das ist
nicht irgendwas anderes.
SC: Du entsprichst nicht wirklich dem ty-
pischen Mainstream-Popstar!
Henry:
Das war mir immer egal. Ich habe gegen
die Mauern nicht angekämpft. Mein See ist im-
„Musik kann nur das wahrhaftige
Gefühl ausdrücken, zumindest bei mir."
mer an diesen Mauern vorbeigeschwommen.
Ich bin immer woanders lang geflossen. Und
dann aber an der richtigen Tür hängen geblie-
ben, als der Produzent Alex Silva durch Zufall
mal Demo-Aufnahmen von mir gehört hat. Er
wollte wegziehen aus Deutschland, weil er
nichts gefunden hat, das ansatzweise authen-
werde mir dafür etwas Abgefahrenes einfallen
lassen. Vielleicht stellen wir den Spiegelberg aus
meinen Videos auf die Bühne. Oder einen Zwer-
genchor. Und ich hoffe, ich werde nicht letzter.
Aber auch das würde ich verkraften und trotz-
dem weiter machen.
Katja Schwemmers
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