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eutschland, Anfang der 90er: Nachdem
den Plattenfirmen die Wiederveröffentli-
chung des gesamten Musikkatalogs auf
CD schwindelerregende Summen in die Kassen ge-
spült hat, macht sich Katerstimmung breit. Zwar
hatte man jahrelang jede vielversprechende Band
von der Strasse weg unter Vertrag genommen,
aber Aufbauarbeit? Meist Fehlanzeige. Das zeigt
Auswirkungen auf die Verkäufe. Und so fördert
man den Single-Markt. Ein paar Statisten und ein
Songwriter kosten weniger als eine ganze Band. In
den USA hingegen macht sich die Szene in Seattle
daran, musikalisch ordentlich aufzuräumen: Dort
erklären Soundgarden und Co. dem „Hair Metal“
den Krieg mit den Mitteln des klassischen Song-
writing. Ihre Protagonisten singen und schreien
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zählte klang ehrlich und ständig am Rande
der totalen Selbstaufgabe. Das hatte es seit
Ton, Steine, Scherben nicht mehr gegeben.
Gitarrist Christian Neander hatte allem An-
schein nach alles vom Bluesrock der Sech-
ziger bis zum experimentellen Prog der
Siebziger in den Händen gespeichert. Dazu
kamen Keybords und Orgelsounds zum Ein-
satz, Mitte der Neunziger für die meisten
der Gipfel der Exotik.
Schon die erste Single schafft es in die
deutschen Top 40.
Von da ab geht es für
die Fünf aus Hamburg von Null auf Hundert
in Rekordzeit. Gleich im Folgejahr, 1995, er-
scheint das Album „Hier“, auf dem die Band an
Härte zulegt. Man schreibt den Soundtrack zum
Film „Knockin’ On Heaven’s Door“ und tourt und
tourt und tourt „wie im Rausch“ (Gitarrist Chris-
tian Neander).
Nach zehn Jahren Pause in alter Stärke zurück:
mit ihrem aktuellen Album „Und endlich unendlich".
von sämtlichen Zuständen emotionaler und ratio-
naler Verwirrung. Musikalisch bedient man sich
überall, Hauptsache, der Song stimmt.
Während Grunge seinen Zenit bereits über-
schritten hatte, sah es hierzulande noch im-
mer so aus, als würden die deutschen Hoff-
nungsträger irgendwo in einem Übungskeller
verrotten.
Bis plötzlich Selig dastanden. Deren
Sänger Jan Plewka brachte nicht nur ein unver-
krampftes Verhältnis zum Texten mit wie seine
Kollegen im englischen Sprachraum. Was er er-
Plewka, der sein Herz Abend für Abend wie
ein schmerzendes Piercing auf der Zunge trägt,
driftet langsam aus der Bahn.
Neander rück-
blickend: „Anfangs hatten wir noch ständig und
viel miteinander geredet, aber das wurde immer
weniger. Wir dachten zwar immer noch, dass wir
irgendwie auch aufeinander aufpassen, aber das
war nicht mehr möglich. Das war wie im Wahn,
wo man ganz plötzlich merkt, dass man sich to-
tal nervt und eigentlich gar nichts mehr zu sa-
gen hat.“ 1997 geht die Band für ihr drittes Al-
bum ins Studio. Dann der Supergau: Jan Plewka
schmeißt schon kurz nach den Aufnahmen das
Handtuch. „Blender“ wird das erste Selig-Album,
das glatter und poppiger klingt und prompt
harsche Kritik einstecken muss. Nachdem klar
wird, dass sich Plewka nicht zur Rückkehr bewe-
gen lässt, trennt sich die Band offiziell im Januar
1999. Keyboarder Malte denkt, dass aber nicht
allein die Highspeed-Agenda der vorausgegan-
genen Jahre entscheidend war: „Wir waren eben
noch relativ jung und da gingen dann die Inter-
essen teilweise schon weit auseinander. Die
konnte jetzt jeder für sich ausprobieren.“ Das
Hauptinteresse blieb allerdings bei fast allen
Bandmitgliedern die Musik: Gitarrist Christian
Neander gründete u. a. die Band Kung-Fu, eröff-
nete ein Studio in Berlin und war mit verschie-
denen Bands als Tourgitarrist unterwegs (u. a.
Jazzkantine). Jan Plewka gründet gleich mehrere
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Story: Selig
Eine Sache allerdings regeln Selig bei „Und
Endlich unendlich“ diesmal komplett Band-
intern: die Aufnahmen!
Als sich die fünf in
Christian Neanders Berliner Studio begeben, ist
kein Produzent dabei. Christian: „Ich hatte dies-
mal das erste Mal selbst produziert, ohne Franz
(Plasa, Produzent der ersten drei Alben, Anm. d.
Autor) und das hat, glaube ich, auch nur so gut
geklappt, weil wir den Rücken frei hatten. Und
dass wir das so gemacht haben, war absolut not-
wendig. Wir sind eigentlich erst über die Arbeit
im Studio als Band wieder richtig zusammenge-
wachsen. Das war ein sehr wichtiger Prozess!“
Mächtige Drumsounds wie Mitte der Neunziger
sucht man jetzt genauso vergeblich wie ausge-
dehnte Spielereien mit Effekten, Loops und ähn-
liches: „Das war absolut so gewollt. Wir haben
uns da sehr zurückgenommen, weil wir wollten,
dass das alles sehr direkt klingt“, erklärt Christi-
an „Der Sound auf den ersten beiden Alben war
damals schon ok“, so Malte „Aber jetzt wollten
wir, dass alles möglichst pur rüberkommt.“
Bei der Instrumentierung ist man sich treu
geblieben und hält sich mit Shure Mikro-
fonen, Fender Jazz Bass und Gibsons an be-
währte Rockstandards.
Auch auf Tour sind
Marshall Amps, Boss-Pedale und Ampeg-Tops
natürlich Pflicht. Allein Malte hält nicht viel von
Vintage-Tasteninstrumenten im täglichen Ge-
brauch: „Die sind arg störanfällig. Ich arbeite
praktisch ausschließlich mit dem Clavia Nord.“
Das Back-To-Basic-Konzept von „Und endlich
unendlich“ geht prompt auf: Die Platte schießt
auf einen respektablen Platz 5 der deutschen
Albumcharts. Erste Auftritte bei Festivals wie
Rock am Ring bringen die Band sofort wieder zu
ihrem alten Publikum zurück. „Das war teilweise
schon lustig“, so Jan: „Da standen Leute in der
ersten Reihe und haben sich bei älteren Songs
ganz überrascht umgedreht, nach dem Motto:
Bands (u. a. Zinoba, TempEau) und spielte Thea-
ter und Oper. Drummer Stoppel spielt bei James
Last ein und Leo studiert Musik. Keyboarder
Malte klinkt sich als einziger total aus dem Mu-
sikgeschäft aus. Was folgt, ist eine Dekade fast
vollständiger Funkstille: „Wir hatten die Nase
echt voll voneinander,“ lacht Malte, und Christi-
an erinnert sich:
„Wenn wir (Jan und
Christian)uns irgendwo gesehen haben, haben
wir uns sogar voreinander versteckt.“
2007 schließlich beschließt Plewka einen Re-
animationsversuch:
„Als ich Malte nach 10
Jahren anrief, sagte er nur: „Du wirst es nicht
glauben. Ich hab gestern mein letztes Keyboard
verkauft!“ Vielversprechend klingt anders, aber
man trifft sich trotzdem „total konspirativ“ so
Plewka. Und quatscht sich erstmal so richtig
aus. Erst, als wieder alle miteinander im Probe-
raum stehen, ist es endgültig klar, dass es einen
Neustart gibt. Aber nicht, ohne notwendige
Schlüsse aus der Vergangenheit zu ziehen. Einen
Selig-Overkill soll es diesmal nicht geben. Des-
halb entscheidet man sich bewusst wieder für
eine Kooperation mit einem Major Label. In einer
Zeit, in der es Plattformen wie MySpace und Fa-
cebook gerade Bands mit bestehender Fange-
meinde relativ leicht machen, die Sache in Ei-
genregie durchzuziehen: „Wir haben uns zuerst
überlegt, alles ohne Plattenfirma zu machen, das
war uns dann aber zu stressig“ meint Christian.
„Wir hatten uns auch vorgenommen, dass jeder
auch Sachen neben Selig her machen will und
wenn man alles voll nutzen will, muss man sich
total reinhängen. Da bleibt dann keine Zeit mehr
für etwas anderes. Wir haben ein anderes Ma-
nagement als damals und die gehen sehr wach
mit diesen Sachen um. Durch eine Plattenfirma
kommt man außerdem leichter an gewisse Dinge
heran. Du kannst dich so einfach hundertpro-
zentig auf die Musik konzentrieren“, sagt Jan.
`Wie - warum singen die da hinten alle mit?
Wieso kennen die alle den Text?`“ Auf der lau-
fenden Tour, bei der die Band in mittelgroßen
Hallen und mit einer Bühnenshow, die visuell
darauf abzielt, alte wie neue Fans mit ins Wohn-
zimmer zu nehmen, geht man hart an den Mann.
Der Erfolg hat sie wieder, scheint es. Und es sieht
gut aus, dass sich Selig um ihren Platz in einer
mittlerweile sehr lebendigen deutschsprachigen
Musikszene keine Sorgen machen müssen.
Sandy Caspers
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ach über 10 Jahren Pause sind sie zu-
rück: Selig, eine der interessantesten
deutschen Bands der 90er haben wieder
zusammen gefunden. Alle Probleme sind ausge-
räumt und mit „Und Endlich Unendlich“ haben
die Hamburger ein Album eingespielt, das mit
rockigem Sound und intelligenten deutschen
Texten da anknüpft, wo das Debüt 1994 anfing.
Auf der Tour trafen sich alte und neue Fans und
erlebten eine Band, die ihren Frieden mit sich
selbst gemacht hat und sich jetzt, jenseits von
Hype und übermäßigen Erwartungen, um das
kümmert, was sie am besten kann: Musik machen.
N
Vor dem Konzert warfen wir einen Blick hinter
die Kulissen und stellten fest, dass Selig mit
der technischen Seite genauso locker umge-
hen, wie ihre Musik klingt.
Der Sound von Gitar-
rist Christian Neander strahlt coole 70s-Vibes
aus, und das zeigt sich auch bei seinen Arbeitsge-
räten. Christian setzt eine Fender Stratocaster
von 1965 und eine Original Broadcaster ein. Au-
ßerdem kommt noch eine Gitarre des Hamburger
Gitarrenbauers Claim zum Einsatz. Neben dem
Standard-Tuning spielt Neander auch im Drop-D-
Tuning. Die Amp-Seite ist ebenso unkompliziert.
Ein von Manfred Reckmeyer frisierter Vox AC-30
mit Zusatzbox ist alles, was auf der Bühne steht.
Seine abwechslungsreichen Sounds generiert der
Gitarrist mit zahlreichen Bodenpedalen. Auf sei-
nem Effektboard findet sich ein ProCo-Rat, ein
Line 6 MM4, ein Electro Harmonix Memory-Man
und ein Vox Wah. Zusätzlich liegen dem Gitarris-
ten noch einige Boss-Effekte zu Füßen: Neben
einem Super Overdrive finden sich EQ, Flanger
und Delay. Das Umschalten übernimmt Christian
selbst. Auch die Abnahme der Amps gestaltet sich
simpel: Zwei Mikros, fertig. Für die Akustiksounds
kommt eine Gibson Dove zum Einsatz, die einen
PU im Schalloch hat und über eine aktive DI-Box
direkt ins Pult geht.
Bassist Leo Schmidthals vertraut auf einen
Squier Jazz Bass aus den 80er Jahren, der einen
Ganzton tiefer gestimmt ist.
Für ihn ist der
Sound des Basses „wirklich einzigartig“. Als Ersatz
steht noch ein Fender Jazz Bass von 1976 zur Ver-
fügung. Der Bass läuft über einen Ampeg SVT II
Pro und eine Marshall-Box. An Effekten kommt
ein Boss OC-2 Octaver und ein Ibanez Tube Screa-
mer zum Einsatz. Schmidthals, der auf dem Cello
angefangen hat, spielt alle Songs mit den Fingern
und kreiert unterschiedliche Sounds durch den
Wechsel der Anschlagsposition. Eine ordentliche
Bühnenlautstärke ist ihm wichtig: „Ich spiele sehr
laut, die Bühne vibriert, das brauch ich schon.“ Am
Mischpult wird ein Mix aus DI- und Amp-Signal
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Story: Selig
verarbeitet. „Das Signal, das analog durch Amp
und Lautsprecher entsteht ist schon sehr wichtig
für den Sound“ meint Schmidthals.
Drummer Stephan „Stoppel" Eggert spielt
schon seit den Anfangstagen ein altes Pearl
MPX-Set mit Sabian-Becken.
„Das sind keine
richtigen Rockbecken, sie sind nicht tierisch
Stattdessen gehen ein Clavia Nord Stage und ein
Nord Wave direkt ins Pult. „Das klingt super und
geht nicht kaputt. Im Studio habe ich eine Ham-
mond Orgel mit Leslie und eine Wurlitzer gespielt,
aber live gehen erstens die Menschen kaputt, die
das Zeug ständig tragen müssen, und zweitens
das Equipment selbst. Es ist zu wertvoll, und am
Ende klingt es auch nicht großartig anders.“
bearbeitet: „ Fürs Schlagzeug kommen verschie-
dene Räume zum Einsatz. Auf die Stimme lege ich
Delays, Pitch Change, Chorus, Phaser und Flanger.“
Jan Plewka und Christian Neander bevorzugen
Shures SM58. Die Effekte kommen direkt aus dem
Pult. Michael ist während der ganzen Shows be-
schäftigt: „Ich ändere dauernd die Effekteinstel-
lungen, aber auch generell den Sound, z. B. mache
ich die Gitarren für manche Songs spitzer.“ Nach
etwas Ausprobieren ist die Setlist mittlerweile
konstant, was für Verlässlichkeit sorgt.
Beim Konzert ist der Sound wirklich beeindru-
ckend.
Trotz kahler Betonwände und hoher Decke
sind alle Instrumente in druckvoller, aber ange-
nehmer Lautstärke zu hören. Spacige Delays und
Flanger sorgen für viel Atmosphäre. Soundmäßig
gut versorgt liefert die Band eine engagierte Show.
Das Publikum quittiert es mit lautem Applaus,
glücklichen Gesichtern und enormer Textsicher-
heit. Auch die Songs vom aktuellen Album werden
ausgiebig mitgesungen. 90 Minuten später ver-
lassen rund 1.500 selige Menschen den Gig.
Martin Schmidt
Bass in Kombination mit einem Ampeg SVT
5.
Keyboarder
Malte setzt ganz auf seine Clavia-Nord-Geräte
6.
Christian
kommt auf Tour mit lediglich drei E-Gitarren aus.
dick, halten aber lange durch“. Elektronik kommt
nicht zum Einsatz. Ein kleines Mischpult neben
ihm sorgt für guten Monitorsound: „Ich benutze
In Ears und habe die Band als Summe auf dem
Pult, dazu mich als Summe und je nach Halle
passe ich das an.“ Ein Metronom setzt der Drum-
mer meistens nur zum Einzählen ein. Zwei bis
drei Nummern werden aber mit Click gespielt,
aufgrund getimter Gesangs-Echos vom FOH.
Keyboarder Malte Neumann mag es unkom-
pliziert.
Sein Vintage-Fuhrpark bleibt im Studio.
1.
Alte Besen rocken gut:
Das Mapex-Set von Stoppel hat
schon einige Jahre auf dem Buckel
2.
Die Grundlage von
Christians Gitarrensound bildet ein von Manfred Reckmeyer
Am FOH-Pult steht Michael Bauer, der seit
2009 für Selig arbeitet.
Der ehemalige Drum-
mer ist seit 22 Jahren als Live-Techniker aktiv und
arbeitete schon für Rammstein, Silbermond und
die Leningrad Cowboys. Er verwendet zwei Misch-
pulte von Soundcraft. Das digitale Pult ist das
einzige, was Selig an PA-Equipment mit auf Tour
nehmen, der Rest kommt vom lokalen Veranstal-
ter. Für ein Selig-Konzert benötigt Bauer 27 Ein-
gangskanäle. Mit am Mischpult hinzugefügten
Effekten verwaltet er am Ende 39 Kanäle. Beson-
ders Schlagzeug und Stimme werden von ihm
frisierter Vox AC-30
3.
Klangliche Variationen holt er dann
aus diversen Effektpedalen
4.
Klassischer geht es kaum:
Basser Leo vertraut auf einen vertraut auf einen Squier Jazz
1.
2.
3.
4.
5.
6.
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mal mit, wo wir stehen, und dann haben wir in
einer Woche fünf Stücke aufgenommen, nur so
den Stand der Dinge und die sind komplett so
aufs Album gekommen. Ich hab immer gedacht,
ich muss die Gitarre noch mal machen und alle
guckten mich total entsetzt an: WIESO DENN??
SC: „Die Alte Zeit zurück“ beschreibt schön, wie
jemand, der früher wild und cool war, hängen-
bleibt. Beruht der Song auf eurer Erfahrung?
SE:
Jeder hat Kumpels von damals, mit denen
man ne Schülerband hatte: Dann ist die Schule zu
Ende und die Wege trennen sich, weil der eine
sagt: Nee, das ist mir alles zu vage, aber die kom-
men dann Jahre später an und sagen: Mensch, du
hast alles richtig gemacht und so … Man sagt
dann: wieso, du bist ein toller Anwalt geworden,
ist doch super, freu dich doch … Nee, ich wäre viel
lieber Musiker geworden … Tja, dann hättest du
es machen müssen, jammer jetzt nicht rum.
SC: Wie hat sich eure Perspektive verändert?
Fühlen sich die alten Songs jetzt anders an?
CN:
Es ist erstaunlich. Es fühlt sich überhaupt
nicht abgegessen an. Es macht einfach unglaub-
lich Spaß zu spielen und ich ertapp mich oft, wie
ich mitsinge.
SC: Ihr steht also noch zu euren Aussagen.
Gerade die erste Platte hat ja so ein unge-
wisses Gefühl vermittelt …
Beide:
Jaja!
W
ir hatten vor dem Konzert in Wiesba-
den die Gelegenheit mit Gitarrist
Christian Neander und Drummer
Stephan Eggert über das zweite Leben von Selig,
die aktuelle Tour und die Veränderungen gegen-
über dem Musikerleben in den 90ern zu sprechen.
SOUNDCHECK: Wie läuft die Tour?
Christian Neander:
Toll! Es ist herrlich. Volle
Läden, begeisterte Menschen, wir haben großen
Spaß. Am Anfang haben wir das Programm fünf-
mal umgestellt, aber jetzt haben wir es endlich.
SC: Wie setzt sich das Publikum zusammen?
Kommen viele alte Fans oder habt ihr auch
neue Zuhörer gewonnen?
CN:
Ich glaube schon, dass der Großteil Fans von
damals sind, aber je nach Stadt sieht man auch
neue Leute. Gestern waren lustigerweise zwei
Mädchen da, die kannten die alten Songs nicht.
SC: Wie ist die Band eigentlich wieder zu-
sammengekommen? Gab es ein spezielles Er-
eignis oder war das ein längerer Prozess?
CN:
Es war so, dass Jan bei Stoppel saß und
dachte: Ruf mal alle an. Jetzt wäre es an der
Zeit, alles ist verjährt. Dann haben wir einen lan-
gen Prozess gehabt, wir haben uns getroffen,
erst sehr vorsichtig, weil es für uns alle sehr
wichtig war, haben ganz viel gesprochen, und
nachdem wir alles ausgeräumt hatten und ver-
standen hatten was schief gegangen ist damals,
haben wir zusammen Musik gemacht, und das
war Wahnsinn, eine unglaublich tolle Erfahrung.
Mir fiel auf, was ich echt vermisst hab.
SC: Wie schreibt ihr Songs?
CN:
In diesem Fall haben wir gejammt und alles
viel gemeinsam gemacht. Das intensivste und
beste ist eigentlich, wenn man zusammen ist,
aber ich habe mich neulich mit Jan in Berlin ge-
troffen und wir haben ein paar Ideen grob auf-
genommen ohne sie besonders auszuarbeiten.
Ich wohn ja in Berlin und die anderen in Ham-
burg, da schicken wir auch schon mal was.
SC: Ist Selig für alle wieder das Hauptprojekt
oder arbeitet ihr weiter an Soloprojekten und
als Arrangeur/Songschreiber?
Stephan Eggert:
Selig hat Priorität, aber alle
nehmen sich die Freiheit andere Sachen zu ma-
chen. Das haben wir damals nicht gemacht, sind
völlig in Selig abgetaucht und haben uns da-
durch, dass wir keinen Ausgleich hatten, anein-
ander aufgerieben. Da wir das nicht noch mal
wollten, gönnen wir uns Pausen voneinander.
SC: Wie habt ihr die Platte eingespielt? Live
mit der ganzen Band oder einzeln?
SE:
Nee, eigentlich sehr live. Wir dachten, wir
nehmen Pilotspuren auf, haben dann das Arran-
gement und ersetzen dann die Sachen, aber wenn
das Arrangement klar war, haben wir das häufig
so gelassen und wenig Overdubs gemacht.
CN:
Das war lustig. Wir haben Songs geschrie-
ben und arrangiert und dachten, nehmen wir
SE:
Die Musik ist immer noch frisch. Textlich füh-
len sich für Jan jetzt manche Sachen wirklich ko-
misch an, aber die Hälfte vom Programm sind alte
Songs und die gelten eigentlich immer noch.
CN:
Du hast da vielleicht auch einen anderen
Blickwinkel drauf. Texte sind ja sowieso offen, es
gibt immer Interpretationsmöglichkeiten und das
ist auch die Chance da irgendwie reinzukommen.
Außerdem ist das sowieso ein Teil von uns.
SC: Für mich knüpft das neue Album vor allem
an eure erste Platte an. War das eine bewusste
Entscheidung Experimente außen vor zu lassen?
CN:
Also im Vorfeld hatte ich mir das gewünscht,
aber wie haben nur zusammen Musik gemacht,
und dann klingen wir halt so. Wir haben uns keine
Gedanken gemacht, waren froh darüber, dass wir
unseren Sound noch hatten und dass es so einen
Spaß macht. Da muss man dann nicht dagegen
arbeiten. Die ganze Platte ist sehr unkopfig.
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Story: Selig
SC: Es hat also keiner gesagt: Ich mach nur
mit, wenn es keine elektronischen Loops gibt?
CN:
Platten sind eben immer Zeitdokumente. Da
kann man ganz gut ablesen, wie es uns zu wel-
chem Zeitpunkt ging.
SC: Hat sich das Musikbusiness eurer Meinung
nach in den letzten Jahren stark verändert?
SE:
(mit Hamburger Akzent): Ich sag ma Joo,
nee? Es ist geschrumpft und hat andere Platt-
formen gekriegt. Als wir aufhörten Selig zu sein,
war Christian der erste Mensch den ich kannte,
SC: Seht ihr die digitalen Neuerungen eher
als Segen oder Fluch für Bands und Musiker?
SE:
Es ist eine Demokratisierung. Jeder kann sich
für ein paar Hundert Euro Equipment zulegen, mit
dem man Musik produzieren kann, auch wenn es
nur Casio-Gepiepse ist, und das kann man dann
auch noch veröffentlichen. Das finde ich super.
CN:
Ich glaube, jeder von uns hatte diese Phase,
wo er dachte alles ist möglich. Aber dann besinnt
man sich drauf, wieder das Gute davon zu nutzen.
Das Wesentliche ist das Schreiben und das Spie-
len, das ist die Basis. Der Rest sind Hilfsmittel.
einfach nur mit Plattencover. Das hat 850.000
Klicks (Mittlerweile wurde sogar schon die Mil-
lionenmarke übersprungen, Anm. d. A.) und das
ist wie so ein Forum, das sind fast nur junge Leu-
te, die so Sachen rein schreiben, wie „ja, ich hab
gerade jemand verloren“. Das fand ich sehr in-
teressant und toll, dass man da so etwas weiter-
geben oder anregen kann und ich hab schon das
Gefühl, das bei den Konzerten so ne gewisse
Freiheitsliebe oder das Gefühl den Tag zu lieben
stattfindet, das was früher auch stattfand. Frü-
her sind wir natürlich, um Jan zu zitieren, durch
Verzichtet live auf Vintage-Schätzchen:
Tastenmann Malte
Hat die 70er-Sounds in den Fingern:
Christian Neander
Spielt alles mit den Fingern:
Leo Schmidthals
der ein Handy hatte. Es hat sich da sehr viel ent-
wickelt, vom 56k-Modem zu Highspeed DSL.
Ansonsten ist es von der Grundlage immer noch
das Gleiche: Als Band musst du jemand in einer
Plattenfirma begeistern, um die Tür aufzukrie-
gen. Dann, wenn man froh ist, einen Deal zu ha-
ben, muss man kämpfen, dass man gut behan-
delt wird. Und das hat sich nicht geändert, die
Substanz ist nach wie vor da.
CN:
Ich glaub, das Wesentliche ist immer noch die
Musik. Es gibt ja Bands, die ganz, ganz fleißig sind
im Internet, die total Gas geben, Millionen My-
Space-Freunde haben, aber leider nur zehn Platten
verkaufen. Das allerwichtigste ist der Inhalt der
Musik und das bleibt immer so. Da muss man halt
überlegen wie man mit Sachen umgeht.
SC: Wie sehr berührt das eure Arbeitsweise?
SE:
Das Feedback das man nach Konzerten
kriegt, ist viel direkter. Sonst kleckerte da ab und
zu mal so ein Briefchen rein, jetzt kriegt man
direkt am nächsten Morgen serviert, was alles
gut, falsch oder sonst wie war. Man wird sofort
abgestraft, euer Video ist scheiße usw. (lacht)
SC: Viele Einflüsse, die früher in eurer Musik
waren, sind immer noch da: Hendrix-artige
Gitarren, das 70er-Feeling. Gibt es auch neue
Elemente, die früher nicht so präsent waren?
CN:
Hmmm…weiß ich nicht. (beide lachen). Ich
kann nur sagen, dass wir alle viel Musik gemacht
haben und sich das natürlich auch widerspiegelt.
Der Kern ist halt die Begeisterung, das große
Glück in dem Kreis Musik zu machen. Ein Unter-
schied ist, dass wir selber produziert haben …
SC: Wie ordnet ihr euch im deutschen Rock
ein? Fühlt ihr euch anderen Bands verbunden?
SE:
Wir fühlen uns schon den Leuten verbunden,
die wir jetzt ständig auf Festivals getroffen ha-
ben, da gibts einfach auch gute Sachen in
Deutschland, Jan Delay zum Beispiel. Aber musi-
kalisch gibts da nicht so viel Verwandtschaft.
SC: Denkt ihr, junge Fans nehmen euch heute
anders wahr als vor 15 Jahren, oder steht Selig
immer noch für ein bestimmtes Lebensgefühl?
CN:
Was ich sehr interessant finde: Den Song
„Wir werden uns wiedersehen“ gibts auf Youtube,
jede Wand gerannt und jetzt nur noch durch je-
de zweite.
SC: Was hat Selig, was anderen aktuellen
Bands fehlt?
SE:
Vielleicht… wir sind sehr emotional, speziell
auf der Bühne. Vieles, was im Moment so unter-
wegs ist, ist unheimlich durchgestylt, lahm, auf-
geräumt, fast schon klinisch. Selbst Punkbands
wirken manchmal so richtig choreographiert.
Wir sind da relativ spontan auf der Bühne, wir
gönnen uns bisschen mehr Freiheit.
SC: Wie sieht die Zukunft von Selig aus? Arbei-
tet ihr an neuen Songs oder ist das ganze auf
eine CD und diese Tour beschränkt?
CN:
Nee, wir haben schon ein bisschen angefan-
gen, neulich nachts auf dem Hotelzimmer. Wir
waren schon sehr lustig unterwegs, hatten ne
ganz schöne Idee. Wir machen auf jeden Fall
nächstes Jahr ein neues Album. Wir haben total
viel Bock noch ganz viele Platten zu machen!
Martin Schmidt
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