Workshop: producers secrets
© PPVMEDIEN 2010
Producers Secrets – Teil 10
M/S-Processing in
der Anwendung
In den letzten Folgen der Producers Secrets haben wir uns mit den ver-
schiedenen Techniken des Masterings beschäftigt und dabei mit der M/
S-Bearbeitung eine spezielle Mixvariante vorgestellt, die zwar eine lan-
ge tontechnische Tradition hat, jedoch erst seit ein paar Jahren als äu-
ßerst wirksame Möglichkeit der Bearbeitung von Stereosignalen auch
außerhalb der professionellen Masteringstudios Verwendung findet.
D
er Mixing-Prozess ist beendet, alle sig-
nale wurden in ihren Lautstärken sinn-
voll gestaffelt und im stereo-Panorama
verteilt. Viele Instrumente und Mixelemente wur-
den zudem in ihrem Frequenzbild und ihrem Dy-
namikbereich mit eQs, kompressoren, Deessern,
transienten-tools und ähnlichen klangverän-
dernden Werkzeugen bearbeitet. Verschiedene
effekte wie beispielsweise reverb, Delay oder al-
ternative Modulationseffekte wurden verwendet,
um der Mischung Dimension, tiefe und eine ein-
drucksvolle klangfülle zu verleihen. Im Mixdown
wird das so produzierte vorläufige endergebnis
der gesamten Produktion nun auf ein stereofile
zusammengemischt, welches in einem letzten
schritt schließlich noch über ein Mastering
60
soundcheck 06
|
10
WWW.soundcheck.de
© PPVMEDIEN 2010
klanglich veredelt und für die Vervielfältigung
und Wiedergabe auf vielen tonträgern und
Wiedergabemedien optimiert werden soll.
Plötzlich fällt während des Masterns auf,
dass die Bassdrum doch etwas zu laut, oder
die Leadvocals eine Nuance zu leise gemischt
wurden.
oder vielleicht möchte man dem ge-
samten Mix noch ein paar edle Höhenanteile
spendieren, käme dann aber den bereits sehr
scharfen und zischenden sibyllaten der Lead-
vocals in die Quere. oder aber man möchte
eventuell etwas an der allgemeinen stereobreite
des Mixes ändern, ohne für all diese nachträg-
lichen eingriffe und korrekturen noch einmal
einen schritt zurück zum Mixingprozess machen
zu müssen, um dort grundlegend in die Verhält-
nisse einzugreifen.
Das Freeware-tool MseD von Voxengo übernimmt das enco-
ding/Decoding und bietet einige kleine sonderfeatures.
Ein historischer Rückblick
Diese gezielte Bearbeitungen einzelner Mix­
elemente in einer Stereodatei wird durch
ein Verfahren möglich, welches bereits in
den Jahrzehnten der frühen Vinylproduktion
entwickelt wurde.
In grauer audiovorzeit
nutzte man bei der Pressung von schelllack-
und später Vinylplatten seitliche auslenkungen
der rillen, um amplitudenunterschiede darzu-
»
Wiedergabe transportieren könnte. ein dama-
liger Vorschlag war es, die linken kanalanteile
durch seitliche auslenkungen, und die recht-
seitigen audioinformationen entsprechend
durch vertikale Berge und täler umzusetzen.
Dieses Verfahren hätte allerdings zur Folge ge-
habt, dass über einen Monoplayer abgespielt
nur die seitlichen, also audioinformationen des
linken kanals ausgelesen worden wären. auf
der Grundlage der erkenntnise des britischen
erfinders alan Blumlein, der seit den 1930er-
Jahren nach Möglichkeiten der stereo-abbil-
dung von audiosignalen auf Vinyl-Platten ge-
sucht hatte erschloß sich mit dem sogenannten
M/s-Verfahren eine praktikable technologie,
mit der man Links/rechts-Informationen eines
1957 führte dieser revolutionäre Ansatz zur
Entwicklung der ersten Stereo­Vinylplatte.«
stereoaudiosignals in das Format Mitte/seite
umwandeln konnte, und umgekehrt. Dabei ent-
hielt „Mitte“ alle mittigen signalanteile des
stereo-signals, also alles, was auch Mono unver-
ändert abgespielt werden konnte. „seite“ um-
fasste alle signalinformationen, die im stereo-
signal aus der Monomitte heraus auf die beiden
seiten links und rechts verteilt worden war.
1957 führte dieser revolutionäre Ansatz
schließlich zur Entwicklung und Verbreitung
der ersten Stereo­Vinylplatte, die von der
Firma EMI im großen Stil vermarktet wurde.
erstmals konnten nun alle mittigen signalanteile
(Mid) als seitliche, alle links-/rechtslastigen
anteile (side) als vertikale auslenkung auf die
Platte gepresst werden. Die Decodierung der M/
s-Informationen in L/r wurde vom Plattenspieler
übernommen, und wurde eine stereoplatte auf
einem Monoplayer abgespielt, wurden eben nur
die seitlichen (Mid) auslenkungen ausgelesen,
wobei der Hörer eine intakte Monomischung der
Musik hören konnte. Dieser Vorteil wurde seit-
dem als Monokompatibilität bekannt und ist bis
heute ein wesentlicher Faktor, den es bei der
stellen. Die so auf das Medium gebannte
audioinformation war in dieser Zeit noch aus-
schließlich Mono. Mit dem zunehmenden auf-
kommen von stereoproduktionen und -auf-
nahmen stand man jedoch urplötzlich vor dem
Problem, wie man diese beiden unterschied-
lichen Informationen in einer Vinylrille für die
Für das encoding und Decoding des M/s-Processings benötigt
ihr zwei stereo- und sechs Monospuren.
WWW.soundcheck.de
/
Workshop: producers secrets
Wissen
Plugins und Geräte für die M/S-
Encodierung/Decodierung
Da die realisierung einer encoding/Deco-
ding-schaltung sowohl in analoger als auch
digitaler Produktionsumgebung doch mit
einigem routingaufwand verbunden ist
haben einige Hersteller spezielle Geräte oder
Plugin-Lösungen entwickelt, die dem audio-
engineer diese arbeit abnehmen. Diese M/s-
Helferlein wandeln in ihrer einfachsten Form
auf knopfdruck L/r-stereo-signale in M/s-
anteile und umgekehrt. komplexere systeme
bieten darüber hinaus noch eine reichhaltige
Palette an M/s-Bearbeitungsmöglichkeiten,
wie sie im text bereits besprochen wurden.
Besonders die nicht gerade preiswerten
Hardwaresysteme wie beispielsweise das
system 6000 von t.c. electronic stellen
kompression, Limiting, eQing und Deessing
von M/s-signalen an. aber auch die digita-
len Lösungen von Brainworx, Izotope oder
Voxengo leisten im studioalltag gute Dienste
beim encoding/Decoding.
© PPVMEDIEN 2010
dierungsvorgang alle mittigen (Mono-)signal-
anteile getrennt von den seitlichen signal-
informationen mit den unterschiedlichsten
Möglichkeiten der tontechnischen klangpalette
bearbeiten. Dies bedeutet, es ist seitdem durch-
aus möglich, in ein stereomixfile einzugreifen
und die beiden unterschiedlichen signalanteile
entsprechend unabhängig voneinander zu be-
arbeiten. Da wichtige Mixelemente wie Lead-
vocals, Bassdrum, Bass etc. in den meisten
Fällen in der Monomitte des Mixes angelegt
sind lässt sich somit sehr zielgerichtet und ef-
fektiv auf genau diese elemente einwirken.
ebenso stehen die normalerweise sehr in die
stereobreite verteilten signale wie overheads,
Gitarren, keyboards und stereoeffektanteile al-
ler Instrumente über das seitensignal zur indi-
viduellen Bearbeitung bereit.
Funktion
Aber wie funktioniert das Ganze nun technisch
und wie lässt es sich über die eignenen Mög­
lichkeiten der Studioarchtitektur umsetzen?
an dieser stelle müssen wir leider ganz kurz die
physikalische Mathematik bemühen, um die Prin-
zipien und Gesetze der encodierung und Deco-
dierung darzustellen. Die Mid- (M) und side-sig-
nale (s) lassen sich wie folgt aus den normalen
stereo-Links/rechts-kanälen erstellen:
(oben) Decoding in Pro
tools. (rechts) encoding in
Pro tools.
Musikproduktion zu bedenken gilt, da wir als
konsumenten in unserem alltag nach wie vor
von vielen Monowiedergabegeräten umgeben
sind. Bis zum heutigen tag wird das M/s-Ver-
fahren in den verschiedensten Medien als Garant
für eine sichere Monokompatibilität angewen-
det, besonders die Übertragung des stereo-tons
von Fernsehen und FM radio setzt auf die
transmission ihrer signale in M/s aus den ge-
nannten Gründen.
M/S-Bearbeitung
Dieser Rückblick auf die Entwicklung des
M/S­Verfahrens zeigt, dass es durch einen
entsprechenden Encodierungsprozess mög­
lich wurde, Links/Rechts­Informationen ei­
nes Stereosignals in ein Mitten­ und ein
Seitensignal zu wandeln, und umgekehrt.
somit ließen sich also nach dem enco-
M/S ­ Encoding
M = L + R (halbe Lautstärke, da summiert)
S = L ­ R (halbe Lautstärke, da summiert)
Das Mittensignal (M) beinhaltet also alle
Monoinformationen des Audiosignals und
entsteht durch das Zusammenmischen der
linken und rechten Signalanteile des Stereo­
files auf eine neue Monospur.
auch das
seitensignal (s) wird durch die summierung der
beiden stereoseiten links/rechts auf eine
Monospur erzeugt; allerdings wird hierbei der
rechte kanal des signals um 180° in der Phase
gedreht. Durch diese Gegenphasigkeit werden
alle mittigen Monoanteile ausgelöscht, wobei
lediglich die signalanteile der stereoseiten üb-
rigbleiben. Die so enstehenden Monosignale für
M und s sind durch Verdopplung von seiten-
pegeln entstanden, deshalb müssen beide um 6
dB abgesenkt werden, um gleichbleibende Laut-
stärkepegel zu gewährleisten (Halbierung der
Lautstärke eines signals erfordert physikalisch
bedingt eine absenkung um etwa 6,02 dB). es
wird deutlich, dass ein derartiger encoder mit
»
jedem normalen subgruppen-fähigen Mischpult
oder jedem software-sequenzer relativ leicht
nachgebaut werden kann. Nun kann man die
unterschiedlichen signalanteile mit individu-
ellen Insertgeräten oder Plugins bearbeiten, um
die weiter oben beschriebenen Probleme ton-
Dies bedeutet, es ist seitdem durchaus möglich, in
ein Stereomixfile einzugreifen.«
technisch elegant zu lösen. achtet man dabei
darauf, dass sich nicht durch etwaige Latenzen
zusätzliche Phasenverschiebungen zwischen
den signalen einschleichen, lassen sich die bei-
den M/s-signale nach der Bearbeitung wieder
verlustfrei und vollkommen in ein stereofile
überführen. Dieser Prozess wird konsequenter-
weise als M/s-Decoding bezeichnet und funkti-
oniert wie folgt:
M/S ­ Decoding
L=M+S
R=M­S
Um diese Schaltung zu realisieren schickt man
das summierte M­Signal zu gleichen Teilen auf
sowohl den rechten als auch den linken Kanal
der finalen Stereospur.
Das s-signal wird dupli-
Monokompatibilität ist auf Mono-radios notwendig, da sonst
anteile des stereomixes nicht wiedergegeben werden können.
Brainworx bx_solo ist ein Freeware M/s-en-/Decoder, der
uneingeschränkt zu empfehlen ist.
62
soundcheck 06
|
10
WWW.soundcheck.de
ziert und phasentreu auf den linken, und phasen-
gedreht (180°) auf den rechten kanal derselben
geroutet. Die 6-dB-absenkung der M/s-kanäle
verhindert wie oben beschrieben eine Pegel-
verdopplung bei der Zusammenführung. Zuge-
geben, dieses erstellen von en- und Decodern für
die M/s-Bearbeitung erfordern einiges an routing-
arbeit, aber sobald das Prinzip einmal verstanden
ist, lässt sich damit recht schnell und effektiv ar-
beiten. es empfiehlt sich in jedem Fall, für die ei-
genen Masteringprojekte ein sessiontemplate zu
erstellen, in dem das komplexe routing bereits
vorinstalliert gespeichert ist, sodass man sofort
mit der audio-Bearbeitung beginnen kann.
Mögliche Anwendungen
Wofür lohnt sich nun die ganze Mühe?
Welche sinnvollen Anwendungen lassen sich
mit Hilfe der M/S­Bearbeitung realisieren?
Die Möglichkeiten sind vielfältig und reichen
mit etwas kreativer audiofantasie von traditio-
nellen bis sehr abgedrehten effekten. Da man
allerdings immer in die phasenlage der signal-
anteile eingreift, sollte man sehr vorsichtig,
aufmerksam und mit dem nötigen Finger-
spitzengefühl zu Werke gehen, sonst hat man
um M/s-Processing zu ermöglichen, müsst ihr einige kanäle am subgruppen-fähigen Mischpult opfern.
schnell seinen ausgangsmix zerstört. Hier eini-
ge anwendungsbeispiele:
Dynamik:
Über die getrennte Bearbeitung von
Mitten- und seiten-signalanteilen lassen sich
beispielsweise alle wichtigen Mixelemente wie
Bassdrum, Bass und Leadvocals komprimieren, in
ihrer Dynamik kontrollieren und kompakter
zeichnen, da diese Instrumente meist in die
Monomitte gemischt werden. Zu dynamische
Vocals lassen sich so wirksam stabilisieren, der
wichtige Bass/Bassdrum-Bereich druckvoll und
präsent gestalten. Im Gegensatz dazu lassen sich
natürlich ebenso die seitenanteile des stereofiles
transparenter und stabiler halten, ohne gleich-
zeitig dynamisch auf die wichtigen transienten
von Bassdrum, snare oder Vocals zu wirken. eine
stärkere kompression der seiten kann auch die in
der Mischung verwendeten effekt sehr deutlich
und überzeichnet in den Vordergrund holen.
Frequenzbild:
um den wichtigen tiefen Fre-
quenzen von meist Mono gemischten Bassdrums
und Bässen den nötigen raum im Mix zu geben,
und somit den Mix transparenter und ausgewo-
gener zu gestalten lassen sich die seitenanteile
beispielsweise mit einem sanften Lowcut-Filter
belegen. ebenso können darüber hinaus die
Höhenanteile der seitensignale angehoben, ohne
»
eine zu starke zischelnd-scharfe anhebung auf
den mittigen Leadvocals zu riskieren. Besonders
Drumoverheads, keyboardflächen, Gitarrenwände
und effekte lassen sich so durch seidige Höhen
veredeln, ohne dass die s-Laute der Lead-Vocals
zu dominant werden können.
Das M/S­Prinzip ermöglicht eine sehr effektive
Kontrolle der Stereobreite.«
DeEssing:
ein Deesser auf dem Mittensignal
bekämpft wirkungsvoll störende Zischlaute und
scharfe sibyllanten ohne dass Brillanz und
transparenz der Drumoverheads oder der raum-
signale geopfert wird.
Stereobreite:
Das M/s-Prinzip ermöglicht eine
sehr effektive kontrolle der stereobreite des stereo-
files. erhöht man den Pegel der seitenanteile leicht
und senkt dafür die Mitteninformationen ab, so re-
sultiert das in einer scheinbar verbreiterten stereo-
basis durch die entstehung von Phantomschall-
quellen. Übertreibt man diese anwendung sind
extreme, nicht wünschenswerte effekte möglich.
Verrückte Cross­Effekte:
spielt man mit den
Möglichkeiten der M/s-aufteilung des stereo-
signals, so lassen sich mitunter sehr verrückte
effekte realisieren. Besonders in Verbindung mit
kompressoren und Gates in Verbindung mit
cross-geroutetem sidechaining entstehen krea-
tive sounddesigns, die frequenz- oder dynami-
kabhängig aus der Mitte in die seiten „laufen“
können oder umgekehrt. Hier ist aufmerksames
experimentieren gefragt, natürlich immer mit
einem kritischen Blick auf die Phasentreue des
entstehenden ergebnisses.
Soweit unser kleiner Ausblick auf die
Technik und Anwendung der M/S­Bear­
beitung im Mastering.
In der Masteringsuite
der HoFa-studio kommen alle hier angespro-
chenen Möglichkeiten recht oft zur anwendung,
um beim Mastering jeweils das bestmögliche
audioergebnis aus dem angelieferten Mix her-
auszuholen. Viel spaß bei euren eigenen Versu-
chen und bis zum nächsten Mal.
Norman Garschke
Autor: Norman Garschke
Die HOFA­Studios zählen seit über 20 Jahren zu
den größten und beliebtesten professionellen
Tonstudios in Deutschland und bieten mit HOFA­
Training ein staatlich zertifiziertes, modulares
Ausbildungskonzept im Audio­Bereich an. HOFA­
Audio­Engineer Norman Garschke ist erfahrener
Produzent, Musiker und Autor des Fernkurses
HOFA­Training BASIX.
WWW.soundcheck.de
/
soundcheck 06
|
10
63