© PPVMEDIEN 2009
Workshop: producers secrets
Producers Secrets – Teil 3
Die Tiefen des Raums
Jedes natürliche Audiosignal, das wir in unserer alltäglichen Umgebung erfassen, ist
immer und zu jedem Zeitpunkt mit einer wie auch immer gearteten Rauminformation
verknüpft. Wie aber bedeutet dies für die Musikproduktion im Tonstudio?
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er Faktor Räumlichkeit ist für unser Hören
unmittelbar mit der akustischen Informa-
tion verknüpft, wie es beispielsweise die
Dreidimensionalität der Eindrücke für unser sehen
ist. Fehlen diese scheinbar zusätzlichen Informati-
onen in unserer akustischen und optischen Wahr-
nehmung, vermissen wir sie nicht nur, wir entlar-
ven die Eindrücke vielmehr als unwirklich und
künstlich. aufgrund unserer Evolution sind wir
akustisch auf eine räumliche Bewertung unserer
Wahrnehmung angewiesen, um Entfernungen von
schallereignissen abschätzen zu können und uns
einen möglichst präzisen Eindruck der uns umge-
benden räumlichen Verhältnisse zu verschaffen.
Darum legt auch die Musikproduktion größten
Wert auf realistische Räumlichkeiten.
Räumlichkeit und Produktion
In den Anfängen der Musikproduktion wurde
Räum­lichkeit noch im­ Wortsinn um­gesetzt.
Man nutzte große und hohe aufnahmeräume um
viel natürliche Rauminformation der Instrumente
mit aufzunehmen. Bei der Nachbearbeitung kamen
in den großen studios so genannte Hall- oder Echo-
räume zum Einsatz, in die das audiomaterial über
Lautsprecher eingespielt wurde. Der in diesen meist
gekachelten Hallkammern über Mikros aufgezeich-
nete Hall wurde dann dem original beigemischt.
Mit zunehm­ender Weiterentwicklung des Mehr­
spur­Aufnahm­everfahrens etablierte sich dazu
das „Close­Miking“.
sehr nahe Mikrofonierung
ermöglichte eine trennung der Einzelsignale, wel-
che die Nachbearbeitungsmöglichkeiten deutlich
erhöhte. Zudem wurde mehr im so genannten
overdub-Verfahren produziert. Zusätzliche spu-
ren, die nachträglich dem bestehenden arrange-
ment beigefügt werden, wobei alle signale wäh-
rend der Produktion bewusst relativ „trocken“
gehalten werden, um später im Mix eine einheit-
liche Räumlichkeit zu erzeugen. Der Nachteil die-
ser technik: Nahmikrofonierte signale verfügen
über einen sehr geringen eigenen, natürlichen Raum-
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Was ist eigentlich Hall
Praxistipp
Pre-Delay mit Vocal-Hall
Besonders bei der Behandlung der Lead-Vocals im
Mix stößt man oft auf folgendes Problem: Man
möchte die Vocals mit einem schönen, nicht zu
kurzen Nachhall versehen, um ihnen eine ange-
nehme Räumlichkeit zu verleihen und sie somit
homogen in den Mix einzubetten. so rückt der
Gesang allerdings stark in den Hintergrund, wobei
der Eindruck der unmittelbaren Nähe des sängers
verloren geht. Nutzt man jedoch für den Reverb
der Lead-Vocals ein Pre-Delay, das durchaus in der
Größenordnung von etwa 100 ms angesiedelt sein
darf, wird hierdurch der Nachhall deutlich vom
Direktsignal der stimme entkoppelt. so bleibt der
Eindruck von Präsenz und Nähe erhalten, ohne
dass man auf den schönen und stimmungsvollen
Nachhall verzichten müsste.
Hall bezeichnet das Reflexionsverhalten eines
ursprünglichen Schallereignisses in einer be­
stim­m­ten räum­lichen Um­gebung.
Hall – engl.
Reverb – setzt sich in unserer Wahrnehmung aus
drei Phasen zusammen:
Erste Phase – Direktschall: Befinden wir uns als
»
zusammen mit dem Direktschall das subjektive Laut-
stärkeempfinden, sind aber vor allem für unseren
Eindruck des Raumes und die ungefähre Entfer-
nung zur schallquelle von Bedeutung. Dabei inter-
pretieren wir ein signal mit vielen und ausge-
prägten Early Reflections als näher, als ein schall-
ereignis mit weniger und leiseren ERs.
Schallwellen, die uns ungehindert auf direktem­ Weg
erreichen, werden als Direktschall bezeichnet.«
Dritte Phase – sich aufschaukelnder Nachhall
(Reverb): Können wir die ersten einzelnen Reflexi-
onen, die im Raum durch das auftreffen auf Hin-
dernisse und das entsprechende Umlenken der schall-
wellen entstehen noch differenzieren, so verschmel-
zen sie in der weiteren Folge aufgrund ihrer höheren
Dichte und den immer kleiner werdenden zeit-
lichen abständen zur so genannten Hallfahne oder
Nachhall. Der Nachhall vermittelt uns über seine
Dichte und über zeitliche Länge einen Eindruck der
Raumgröße, sowie der Beschaffenheit der reflek-
tierenden oberflächen im Raum. Ist dieses stadi-
um einmal erreicht, klingt der Raum auf seine ei-
gene charakteristische art und Weise aus, wobei
absorbierendes Material die ausklingzeit sowohl
anteil. Deshalb simulierte man diesen zunehmend
über den Einsatz unterschiedlichster Hallgeräte im
Nachhinein. Dafür wurden im Laufe der Zeit die
unterschiedlichsten Konzepte entwickelt und ein-
gesetzt. Von den ersten digitalen algorithmischen
Hallerzeugern kam man schließlich zur noch jun-
gen Faltungshalltechnik, die vor allem von der ho-
hen Leistungsfähigkeit moderner Computer profitiert.
Zuhörer in einem Raum mit einer schallquelle (In-
strument), so werden die schallwellen, die uns
ungehindert auf direktem Wege erreichen als Di-
rektschall bezeichnet. Der Direktschall ist maß-
geblich für unser Richtungshören (ortung) und die
Entfernungseinschätzung verantwortlich und be-
stimmt durch seinen Pegel zum größten teil die
gefühlte Lautstärke des gesamten signals.
Zweite Phase – erste Reflexionen (ER = Early
Reflections): Die schallwellen, die uns nicht auf
direktem Weg erreichen, treffen auf Hindernisse
und werden von diesen umgelenkt und reflektiert
bevor sie auf unser ohr treffen. Diese so genann-
ten Early Reflections werden als zeitlich leicht
verzögerte Echos wahrgenommen. sie bestimmen
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länger, als der eines weit entfernten Signals. Des-
halb lässt eine sehr lange ITDG auf ein sehr nahes
Ereignis schließen, wohingegen eine sehr kurze
oder beinahe nicht vorhandene ITDG ein weit ent-
ferntes Signal simuliert.
Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Abstands­
richtgröße – dem Pre­Delay.
Auch hier wider-
spricht die Logik der tatsächlichen Realität. Eine
signalen. Diese verlieren über die vielen Reflexi-
onen an hochfrequenten Signalanteilen. Ein weit
entferntes Schallereignis wird somit dumpfer und
weniger brillant wirken. Ebenso werden die sehr
tiefen Signalanteile auf dem langen Reflexions-
weg schwächer, wenn auch nicht in dem Maße,
wie das bei den Höhen der Fall ist. Möchten wir
demnach den Eindruck einer sehr weit entfernten
Schalquelle simulieren, kann es helfen, den ver-
Der zeitliche Verlauf der Reflexionen und des sich daraus
aufbauenden Nachhalls lässt sich sehr anschaulich in die-
sem dreiphasigen Modell darstellen.
im Frequenzbild als auch im zeitlichen Verlauf
stark beeinflusst. Eine leise, kurze Nachhallzeit
vermittelt generell ein Gefühl von unmittelbarer
Nähe, eine laute und längere Hallfahne lässt dage-
gen auf ein weiter entferntes Ereignis schließen.
relativ große Pre-Delay-Zeit vermittelt uns in Ver-
bindung mit einer eher leisen Hallfahne den Ein-
druck eines nahen Ereignisses. Ist das Pre-Delay
dagegen sehr kurz, oder gar nicht vorhanden und
hat der einsetzende Nachhall beinahe denselben
Lautstärkepegel wie der Direktschall, interpretie-
ren wir die Schallquelle als weit entfernt von uns.
Beachtet man all diese generellen Grundre­
geln, kann man über die Parameter eines Hall­
geräts eine gezielte Manipulation der nachzu­
bildenden Räumlichkeiten vornehmen.
Allerdings
gibt es noch zwei weitere Parameter, die unseren
Eindruck von räumlicher Entfernung und Tiefe maß-
geblich prägen: Frequenzgang und Panorama
Nicht nur die zeitlichen Parameter selbst sind
für die räumliche Wahrnehmung verantwortlich:
Eine ebenso wichtige Rolle bei der Simulation von
Tiefe und Dimension spielen das Klangbild und die
Panoramaverteilung der Hallinformation. Hier hilft
zum besseren Verständnis wieder die Analogie mit
der Optik. Weiter entfernte Objekte sehen wir mit
immer größer werdendem Abstand zunehmend
farblos und in einer ins Graue wechselnden Ver-
schwommenheit. Ähnlich verhält es sich mit Audio-
»
Eine leise, kurze Nachhallzeit vermittelt generell
ein Gefühl von unmittelbarer Nähe.«
hallten Anteil des Signals noch zusätzlich mit ent-
sprechenden LowCut- und HighCut-Filtern zu be-
arbeiten. Dies kann beispielsweise sehr leicht über
Insert-EQs im Effektkanal realisiert werden.
Befindet sich ein Schallereignis in großer Ent­
fernung, wird es nicht auf seiner gesamten Ste­
reobreite wahrgenommen und rückt in die so
genannte Monomitte.
Ein sehr nahes Audio-Si-
gnal können wir eindeutig im Stereopanorama lo-
kalisieren und seine genaue Position sehr genau bes-
timmen. Bewegt sich ein Signal allerdings weiter
von uns weg, so rückt sein Stereo-Signal für unse-
re Wahrnehmung immer enger zur Monomitte.
Die Wahrheit
liegt dazwischen
Nicht nur die drei Phasen selbst sind prägend
für unsere Wahrnehmung eines Raums, seiner
Größe, der Beschaffenheit der Oberflächen, der
Form und unserer Entfernung zur ursprüng­
lichen Schallquelle.
Vor allem die Abstände zwi-
schen den einzelnen Phasen sind mindestens
ebenso bedeutsam. Wir unterscheiden zwei wich-
tige Zwischenräume der drei Hallphasen:
Die Zeitspanne, die zwischen der Wahrnehmung
des Direktschalls und dem Eintreffen der ersten
Reflexionen liegt ist die Anfangszeitlücke (ITDG =
engl. Initial Time Delay Gap). Dieser Wert definiert
vor allem die Nähe eines Schallereignisses.
Der zeitliche Abstand zwischen Direktsignal und
dem Einsetzen der Hallfahne wird als so genanntes
Pre-Delay (Vorverzögerung) bezeichnet. Dieser Pa-
rameter, steht in den meisten Hallgeräten zur Ver-
fügung. Mit ihm lässt sich der Eindruck der Nähe
eines Schallereignisses maßgeblich manipulieren.
Mit diesen beiden Werten geschieht etwas in­
teressantes, was auf den ersten Blick nicht un­
bedingt unserem logischen Verständnis ent­
spricht.
Wir würden nämlich eigentlich anneh-
men, dass beispielsweise eine längere ITDG, also
ein größerer zeitlicher Abstand zwischen Direkt-
schall und ersten Reflexionen ein Merkmal eines
eher weit entfernten Signals sein müsste. Doch
das genaue Gegenteil ist der Fall. Der Weg eines
einmal reflektierten, nahen Signals ist im Vergleich
zum Weg des Direktschalls relativ gesehen viel
Tiefenstaffelung im Mix
Es gibt also zahlreiche Faktoren bei der Ver­
wendung von Hall, die es uns bei gekonnter
Anwendung erlauben, einem Signal einen be­
stimmten Platz im räumlichen Tiefenspekt­
rum des Mixes zuzuweisen.
Durch bewusste
und gezielte Manipulation von Direktschall, Ear-
ly Reflections, Nachhallzeit, ITDG, Pre-Delay,
Hall-Frequenzverlauf und Panoramaabdeckung
lassen sich Audiosignale präzise in der räum-
lichen Wahrnehmung staffeln. Somit stehen uns
im Mix durch die kontrollierte An-
wendung von Reverb erheblich er-
weiterte Möglichkeiten zur Verteilung
der einzelnen im Arrangement ver-
tretenen Signale zur Verfügung. Es
lässt sich nicht nur eine Verteilung
auf der horizontalen Ebene im Pano-
rama (links/rechts) vornehmen, son-
dern auch eine ebenso wirksame An-
ordnung auf der „Tiefenskala“ (vorne/
nah & hinten/weit entfernt). Beide
Bearbeitungsmöglichkeiten ermög-
lichen gemeinsam einen transparen-
ten und durchsichtigen Mix, in dem
alle Elemente deutlich und differen-
zierbar wahrnehmbar sind, ohne dass
Die „umgekehrte Logik“ der Auswirkungen der ‚Initial Time Delay Gap“:
sie sich gegenseitig verdecken oder
Die Summe der Reflexionen (R1+R2) sind im Verhältnis zum Direktschall (D)
weitaus länger bei einem nahen Schallereignis als bei einem weit entfernten.
sich störend in die Quere kommen.
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Der Screenshot zeigt ein exemplarisches REVERB-Routing in Steinberg Nuendo 4 mit einer großen Palette an unterschied-
lichen Hallräumen. Wie man sehen kann, werden die einzelnen Instanzen über die Sends der Kanalspuren nur sehr subtil
angesteuert. Es ist nicht unbedingt viel Hall erforderlich, um eine sinnvolle und realistische Tiefenstaffelung zu realisieren.
Natürlich wird darüber hinaus deutlich, dass
entsprechende Tiefenstaffelung nur über die
Verwendung mehrerer unterschiedlicher Hall­
Instanzen möglich ist.
Diese sind in ihren Para-
metern so eingestellt, dass sie den Eindruck ver-
schiedener Abstandspositionen in der Tiefenstaf-
felung des Mix suggerieren können. Heute wird
bei einer professionellen Pop-Produktion oft mit
bis zu sechs oder mehr verschiedenen Hallgeräten
gearbeitet.
Man wird in der Regel folgende Optionen als
Effektspuren anlegen, um dann im Mix zu ent­
scheiden, welchen man welches Signal in wel­
chem Lautstärke­Verhältnis zuordnen wird:
Ein oder zwei kurze Räume, eventuell nur aus
Early Reflections bestehend, um bestimmte
Elemente in einer gemeinsamen Grundräum-
lichkeit ansiedeln zu können. Hier kann man
einen Effekt heller und reflektierender, den an-
deren absorbierter und wärmer gestalten.
Ein relativ kurzer Plate-Hall, für eine ange-
nehme nahe Raumwirkung.
Ein mittelkurzer Plate-Hall, für etwas einge-
bettetere und räumlichere Elemente.
Eventuell ein spezieller, knalliger Snare-Hall.
Vielleicht ein spezielles Plate- oder Gated-Re-
verb-Programm.
Ein oder zwei unterschiedlich längere Hall-
oder Room-Varianten, jeweils verschieden im
Frequenzgang durch Filter und im Panorama be-
arbeitet um Mixelemente gestaffelt weiter nach
hinten setzen zu können.
Mindestens ein Effekt-Hall für besondere Ins-
trumente, die in eine klanglich hervorstechende
Räumlichkeit gestellt werden sollen (Solo-Instru-
mente, besondere Groove-Elemente, etc.)
Natürlich stellt diese Vorgehensweise nur eine
von vielen Möglichkeiten dar.
Sie bietet jedoch
bereits vor dem Mix eine gewisse Grundpalette
an möglichen Sounds und Dimensionsstaffelung-
en an, die anschließend noch verändert und fein
justiert werden können. Alle Hallgeräte/Plugins lie-
gen auf separaten Effektkanälen in deren Inserts
und werden über das Send-Routing des Mixers
oder der DAW individuell anteilig angesteuert.
Lasst eurer Fantasie freien Lauf und experi­
mentiert auf der Grundlage des Wissens um
die verschiedenen Parameter der Tiefenstaffe­
lung.
So findet ihr schnell zu euren eigenen Me-
thoden und Techniken für einen transparenten
Aufbau eures Mixes. Viel Spaß damit und bis
zum nächsten Mal.
Norman Garschke
Autor: Norman Garschke
Die HOFA­Studios zählen seit über 20 Jahren
zu den größten und beliebtesten professionel­
len Tonstudios in Deutschland und bieten mit
HOFA­Training ein staatlich zertifiziertes, mo­
dulares Ausbildungskonzept im Audio­Bereich
an. HOFA­Audio­Engineer Norman Garschke ist
erfahrener Produzent, Musiker und Autor des
Fernkurses HOFA­Training BASIX.
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