© PPVMEDIEN 2009
Workshop: producers secrets
Producers Secrets – Teil 4
Gute Zerre, schlechte Zerre
Die Entwicklung der digitalen Aufnahmetechnik in den vergangenen 20 Jahren hat allen ungeahnte
Möglichkeiten bezüglich der klanglichen Qualität ihrer Aufnahmen eröffnet. Doch nach wie vor
lohnt es sich analoge Schaltkreise von Verstärkern und Bandmaschinen zu erforschen.
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iemand möchte heutzutage auf den
Komfort der digitalen schnittsysteme
und vor allem auf die klangliche Brillanz
und dynamische tiefe der qualitativ hochwer-
tigen aufnahmen und Produktionen verzichten,
die mit einem modernen DaW-system zu realisie-
ren sind. Nicht nur der Frequenzgang einzelner
Instrumente kann mittlerweile äußerst exakt auf-
gezeichnet und nachbearbeitet werden, auch der
mögliche verfügbare Dynamikbereich der signale
lässt keinerlei Wünsche mehr offen, ja selbst die
leidigen Kinderkrankheiten früherer aufnahmesy-
steme erscheinen uns wie anekdoten einer längst
vergessenen Epoche.
Was wir heute in den
einzelnen Signalen vermissen
Da die heutigen digitalen Recording-Ergeb-
nisse so klar, präzise und überaus technisch
detailreich gezeichnet sind,
vermissen wir pa-
radoxerweise zunehmend attribute in unseren
aufnahmen, die wir gerade durch die Errungen-
schaften der digitalen Revolution als überholt
angesehen hatten. Es wird für die Musikproduk-
tion deshalb immer wichtiger, den zwar nahezu
perfekten, aber dafür meist kalten und analy-
tischen signalen Charakter, Wärme und klang-
liche Unverwechselbarkeit einzuhauchen. Vor
allem aus diesem Grund sind technisch längst
ausgediente Vintage-Geräte mit ihren vielfäl-
tigen klanglichen Unzulänglichkeiten und Feh-
lern derzeit so gefragt.
Die meisten dieser stark färbenden und sehr
charaktervollen Klangeigenschaften entstehen
durch mehr oder weniger starke Verzerrungen.
Diese treten immer dann auf, wenn ein analoger
schaltkreis, beispielsweise die elektronische schal-
tung eines Gitarrenverstärkers oder eines analo-
gen Mischpults, in der Vor- und/oder Endstufe
übersteuert wird. Da die stark vergrößerte ampli-
tude des ausgangssignals energiereicher als die
mögliche Betriebsspannung des jeweiligen Geräts
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Praxistipp
Bandmaschine
Für die Funktionsweise einer analogen tonbandma-
schine sind viele verschiedene Bauteile verantwort-
lich, die allesamt den Klang des aufgezeichneten oder
wiedergegebenen audiomaterials beeinflussen und
färben können. Das Prinzip beruht auf einer starken
Magnetisierung eines mehrschichtigen Magnetban-
des, dessen enthaltene Eisenoxid- oder Chro-
moxidpartikel durch den Magnetisierungsvorgang
unterschiedlich konsequent ausgerichtet werden.
Vor der eigentlichen aufnahme wird das signal durch
einen aufnahme-Equalizer (Pre-Emphase) in den
Höhen angehoben, bei der späteren Wiedergabe
durch den umgekehrten Prozess im Wiedergabe-
Equalizer (De-Emphase) wieder abgesenkt. Eine sehr
starke Vormagnetisierung durch eine extrem
hohe Frequenz (Bias) verbessert die Qualität der
signalaufzeichnung. Die eigentliche Magne-
tisierung durch das signal selbst ist ein stark
nicht-linearer Vorgang (Hysterese), der meist mit
sättigungsartefakten und einem nicht unerhebli-
chen Höhenverlust einhergeht. Durch diese vielen
Bearbeitungsschritte entstehen sehr charakteristi-
sche Färbungen und klangliche Eigenschaften, die
dem originalsignal vor allem dritte Harmonische
(Partialton) hinzufügen. Um ein einwandfreies
und qualitativ hochwertiges Funktionieren einer
Bandmaschine zu gewährleisten bedarf es einer
regelmäßigen Wartung, Pflege und Einmessung
der einzelnen aufeinanderfolgenden Baugruppen
anhand von speziellen testtönen.
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wird, versagt die analoge schaltung und schneidet
mehr oder weniger radikal die Wellenform ab.
Hierdurch werden so genannte nicht-lineare Ver-
zerrungen erzeugt, die unter gewissen Umständen
überraschenderweise nicht unangenehm für unse-
re akustische Wahrnehmung klingen.
nehm wahrgenommen. Viele kleinere Bauteile in-
nerhalb der in die tage gekommenen Hardware-
Geräte tragen ebenfalls durch ihre nicht-linearen
Kennlinien oder speziellen Eigenschaften der ein-
zelnen audioübertrager zu färbenden internen
Verzerrungen bei, die das originalsignal wiederum
Jeder analoge schaltkreis, aber vor allem ein ma-
gnetisches tonband kann durch gezieltes Über-
steuern des Ein- und ausgangspegels in die sätti-
gung gefahren werden. Beim tonband werden ab
einem bestimmten maximalen Pegel alle magne-
tisierbaren Partikel entsprechend den magne-
tischen Feldlinien ausgerichtet. Erhöht sich der
Pegel dennoch weiter in den so genannten sätti-
gungsbereich, können die Partikel nicht mehr
noch optimaler ausgerichtet werden, die Magne-
tisierung des Bandes hat seine sättigung erreicht
und produziert verstärkt nicht-lineare Verzer-
rungen, die vor allem die dritte Harmonische stark
betonen. Jeder kennt diesen Effekt und den da-
durch charakteristischen Klang von alten, zu hoch
ausgesteuerten Kassettenaufnahmen. Gezielt an-
gewendet auf beispielsweise Drums- oder Bassre-
cordings produzieren diese sättigungsverzer-
rungen eine angenehme klangliche Wärme, wir
sprechen von Druck und sattem, vollem sound.
Die Kompressionswirkung
nicht-linearer Kennlinien
Eine weitere wichtige Eigenschaft einer in die
Verzerrung gefahrenen analogen Schaltung
oder eines magnetischen Tonbandes ist die
dadurch entstehende Kompressionswirkung.
Im Idealfall entspricht die Kennlinie, die sich
durch Eingangs- und ausgangssignal eines ana-
logen Regelkreises ergibt einer Geraden. Der In-
putwert entspricht zu jedem Zeitpunkt einem
bestimmten outputwert. Im Falle der Übersteu-
erung (oder sättigung) knickt die Kennlinie mehr
oder weniger hart ab, trotz immer höherem In-
put kann sich der outputwert nicht mehr erhö-
hen und bleibt auf einem bestimmten Wert sta-
bil. Diese Verzerrungs- oder sättigungskennli-
nien gleichen in großem Maße denen von
Kompressorschaltungen; auch hier knicken die
Linien ab einem bestimmten threshold-Wert ab
Viele Plugins ahmen das Verhalten von Vintage-
Geräten und Bandmaschinen nach.«
mit zusätzlichen und meist wohlklingenden Har-
monischen sprichwörtlich anreichern. Der ehe-
mals neutrale und technisch cleane sound wird so
mit vielen zusätzlichen und meist klanglich ange-
nehmen obertönen veredelt, was wir stets als
volleres und wärmeres Klangbild interpretieren.
Wohlklingende Klangver-
mehrung durch Partialtöne
und Harmonische
Jeder Klang besteht aus einem Grundton und
einer komplexen Struktur aus mehreren Ober-
tönen.
Nicht-lineare Verzerrungen verändern die-
se obertonstruktur und fügen dem originalsignal
des Klangs zusätzliche Partialtöne, so genannte
Harmonische hinzu. Dieser Vorgang kann auf sehr
unterschiedliche art und Weise geschehen. Bei-
spielsweise erfolgt die so genannte kubische Ver-
zerrung einer übersteuerten transistorschaltung
in den teilschwingungen der Wellenform sym-
metrisch, was im Ergebnis vor allem ungeradzah-
lige Vielfache der Grundfrequenz als partialtönige
Harmonische erzeugt, die zueinander nur in ge-
ringer klanglicher Verwandtschaft stehen. ty-
pische transistorverzerrung empfinden wir des-
halb eher als unangenehm.
Die quadratischen Verzerrungen, die bei der
Übersteuerung von Röhrengeräten entstehen
produzieren dagegen durchweg unsymmet-
rische Kennlinien,
die wiederum ausschließlich
geradzahlige teiltöne und Harmonische der
Grundfrequenz hervorbringen und betonen. Diese
stehen in einer engen klanglichen und harmo-
nischen Verwandtschaft mit dem eigentlichen
Grundton und werden von uns als äußerst ange-
Auch analoges Tonband
produziert durch Verzerrung
Teiltöne
Die Schallaufzeichnung erfolgt bei der Ton-
bandmaschine durch eine, der elektrischen
Spannung entsprechenden starken Magneti-
sierung des am Tonkopf vorbei geführten Mag-
netbandes.
Dies ist ein äußerst nicht-linearer
Vorgang, der mitunter starke Verzerrungen her-
vorrufen kann. Doch nicht nur die eigentliche
Magnetisierung färbt den Klang des tonbandsig-
nals in nicht-linearer art und Weise, auch die vie-
len arbeitsschritte innerhalb der tonbandmaschi-
ne selbst wie beispielsweise Pre-Emphase, Bias,
Hysterese und De-Emphase tragen zur besonders
charakteristischen Klangbeeinflussung des audi-
omaterials bei. Durch die starke Magnetisierung
wird ausschließlich die dritte Harmonische der
jeweiligen Grundfrequenz hinzugefügt, eine be-
sonders ausgeprägte und angenehme Klangfär-
bung durch Verzerrung, die beim Vorgang der so
genannten sättigung sehr deutlich zu tage tritt.
Virtuelle Bandsättigung im heimischen Softwarese-
quenzer ist heutzutage kein Problem mehr:
PsP VintageWarmer
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und gehen in eine waagrechte Gerade über. Be-
sonders die schematische Darstellung der Input-
/output-Leistung eines analogen Regelkreises
oder eines tonbandgerätes verdeutlicht die kom-
primierende Wirkung, die bei Übersteuerung und
analoger sättigung eintritt.
die angesprochene besondere Kompressionswir-
kung, die bei jedem Gerät je nach verwendeten
Bauteilen anders und individuell ausfällt kann
nicht mit herkömmlicher klassischer Kompression
erreicht werden.
wareverwandtschaft zum Verwechseln ähneln.
Hinter speziellen Parametern in Kompressor-
oder EQ-Plugins mit den Bezeichnungen Warm-
th, overshoot, Drive oder tape-sat verbergen
sich diese Funktionen auch als optionale Klang-
gestaltungsmöglichkeit herkömmlicher Plugins.
all diese Emulationen kommen den originalen
recht nahe und es wäre müßig, diskutieren zu
wollen, ob sie besser, schlechter, genauso oder
ganz anders klingen als die Hardware-Vorbilder.
Fest steht, dass auch sie den signalen bestimmte
obertöne hinzufügen, und somit einen positiven
und angenehmen Effekt auf den sound ausüben.
Bedeutung für
die Studiopraxis
In der modernen Produktionspraxis arbeitet
man durch den Einsatz der Digitaltechnik
wäh-
rend der aufnahme, der Klangbearbeitung und
der Mischung in der Regel mit sehr neutralen und
Digitale Simulation
des Analogen
Natürlich wurden auch für diese Geräte und
ihre individuellen und unverwechselbaren
Klangeigenschaften digitale Vertreter für die
Verwendung innerhalb der digitalen DAW
programmiert.
Viele Plugins mit unterschied-
Die beiden schaubilder stellen die symmetrischen und unsymmetrischen Kennlinien der
schwingungshalbwellen von Verzerrungen schematisch dar. Bei der symmetrischen transi-
storverzerrung nach kubischen Kennlinien werden dem originalsignal vor allem ...
... ungeradzahlige Harmonische hinzugefügt. Eine unsymmetrische Übersteuerung einer
Röhre nach quadratischer Kennlinie produziert dagegen wohlklingende geradzahlige Parti-
altöne, die das originalsignal satt und druckvoll warm klingen lassen.
glasklar klingenden audiosignalen. Um diesen na-
hezu perfekten aber oftmals leblosen und kalt
klingenden sounds Leben und Charakter einzu-
hauchen verwenden viele Produzenten bewusst
altes Vintage-Equipment in ihren signalketten.
Dabei wird versucht, den digitalen Klängen
angenehme Obertöne hinzuzufügen.
Nicht
selten trifft man in tonstudios alte Multitrack-
oder 2-track-Bandmaschinen an; allerdings nicht
als Hauptaufnahmemedium oder schnittsystem,
denn der service, das regelmäßige Einmessen, die
sehr umständlichen und begrenzten schnittmög-
lichkeiten und die hohen Kosten für Bandmaterial
sind unverhältnismäßig teuer. Nichtsdestotrotz
werden viele Drums- oder Bassaufnahmen gerne
während der Produktion über die Bandmaschine
geschickt. Dabei entstehen durch die besonderen
obertöne und Harmonischen Frequenzverände-
rungen; die wären über den Einsatz eines norma-
len EQs so nicht realisierbar, da ein EQ nichtvor-
handene obertöne nicht hinzufügen kann. auch
lichen Bezeichnungen widmen sich der sound-
anreicherung durch Partialtöne und Harmo-
nische und ahmen damit das individuelle, über-
steuerte Verhalten vieler Vintage-Geräte oder
Bandmaschinen nach. oftmals sehr realistisch
werden von diesen saturation-, Distortion-,
overdrive- und tape-tools bestimmte Harmo-
nische erzeugt, die denen der betagten Hard-
Beide Varianten können aber durchaus gut und
für die jeweilige Produktionsanforderung ange-
messen klingen, hier sollte allein der musika-
lische Geschmack und die eigene Klangvorstel-
lung entscheiden, ob mit einem original oder mit
der digitalen simulation gearbeitet wird.
Norman Garschke
Autor: Norman Garschke
Die HOFA-Studios zählen seit über 20 Jahren zu
den größten und beliebtesten professionellen
Tonstudios in Deutschland und bieten mit HOFA-
Training ein staatlich zertifiziertes, modulares
Ausbildungskonzept im Audio-Bereich an. HOFA-
Audio-Engineer Norman Garschke ist erfahrener
Produzent, Musiker und Autor des Fernkurses
HOFA-Training BASIX.
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