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Workshop: producers secrets
Producers Secrets – Teil 5
Mit Bewegung zum Song
Musik ruft in uns Emotionen hervor und verwandelt die reine Aneinanderreihung von Noten in
diesem Moment zu einem einzigartigen Erlebnis. Moderne Musikproduktionen benötigen daher
eine nachträgliche Bearbeitung für mehr Bewegung im Song – automatisch geregelt natürlich.
I
n den frühen Anfangsjahren der Musikpro-
duktion, in denen die zur Verfügung stehende
Spurkapazität der analogen Tonband-Auf-
nahmesysteme noch auf maximal vier bis acht
Tracks begrenzt war, waren für die dynamische
Veränderung aller musikalischer Parameter wie
Lautstärke, Artikulation oder Klangformung al-
lein die Band oder der jeweilige Musiker verant-
wortlich. Der Toningenieur hatte keine Möglich-
keit in diese Vorgänge einzugreifen, oder sie im
Nachhinein zu bearbeiten, da er keinen direkten
Zugriff auf die einzelnen Signalbausteine hatte.
Aufgenommen wurde in der Regel über Raummik-
rofone – Close-Miking von einzelnen Instrumen-
ten war aufgrund der geringen Spurkapazität
der Tonbänder nur selten möglich. In dieser Zeit
bestimmte allein die Band den Sound, den Aus-
druck und die Emotion der Musik.
Wissen
Die Live-Automation
Zur komfortablen Eingabe, Veränderung und
Bearbeitung von Autmationsdaten während der
laufenden Wiedergabe des Arrangements verfü-
gen alle zur Live-Automation fähigen Systeme
und natürlich alle heutigen DAW-Sequenzer über
verschiedene Modi: Im Read-Modus werden
die bereits vorhandenen Automationsdaten
gelesen und auf die Bewegung der verschiedenen
Parameter übertragen. Wurden noch keine Daten
geschrieben, verhält sich die Automation wie im
Modus “Off”, in welchem der Fader und alle ande-
ren Regler und Schalter frei bewegt und verändert
werden können, wobei diese Bewegungen nicht
aufgezeichnet werden. Im Write-Modus werden
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Daten geschrieben bzw. überschrieben, solange
Write aktiviert ist. Die Gefahr, dass hierdurch
brauchbare Daten überschrieben werden ist
in diesem Modus recht hoch, weshalb sich
der TOUCH-Mode als komfortabler Standard
für die Aufzeichnung so gut wie durchgesetzt
hat. Hier verbleibt die Automation nämlich
im Read-Modus bis ein Regler per Maus oder
Hand angefasst wird. Ab diesem Moment wer-
den Daten aufgezeichnet, allerdings nur solan-
ge bis der Fader wieder losgelassen wird. Die
Automation springt dann sofort und automa-
tisch wieder zurück in den Read-Mode. “Latch”
ähnelt diesem Konzept; jedoch verbleibt die
Automation scharf geschaltet, auch wenn der
Regler wieder losgelassen wird. Dabei werden
die folgenden Daten überschrieben auch wenn
kein neuer Regelvorgang erfolgt.
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allem sehr teuren analogen Mischpulten wie
beispielsweise von SSL oder Neve gemischt
werden mussten.
Sowohl das Arbeiten im Overdub-Verfahren,
als auch der zunehmende Einsatz des sepa-
rierten Close-Mikings brachten allerdings
auch musikalische Nachteile mit sich.
Man
entfernte sich durch diese gestückelte und sehr
kalkulierte Arbeitsweise immer weiter von einer
„gemeinsamen“ und intuitiven Performance der
Band, bei welcher musikalische Interaktion und
bewusste kollektive Soundveränderung während
dem Spielen der Musik Bedeutung verlieh. Der
Toningenieur hatte somit als Ergebnis eine große
Screenshot der ADT MT-5:
Das „C“ unter den Fadern zeigt
den Mute-Automations-Status und „W“ steht für Write.
Viele Spuren,
aber zu wenig Hände ...
Mit dem Fortschritt der analogen Tonband-
technik und der Entwicklung von 8-, 16-
und 24-Spur-Bandmaschinen hielten die
großen Mischpultkonsolen Einzug in die
Tonstudios.
Nun verfügte man nach und nach
über genügend Spuren und Mischpult-Fader,
um die vielen Einzelsignale einer Musikproduk-
tion getrennt aufzeichnen und bearbeiten zu
können. Ebenso etablierte sich während des
Recordings das sogenannte Overdub-Verfah-
ren, bei dem nachträglich Aufnahmen zusätz-
lich zum bereits bestehenden musikalischen
Material aufgezeichnet werden konnten. Durch
Koppelung mehrerer Bandmaschinen entstan-
den besonders in den 70er-Jahren sehr dichte,
spurgewaltige Produktionen von bis zu 100
Tracks, die auf riesigen, legendären und vor
»
Mixdown großer Produktionen halfen daher meist
viele Menschen mit. Toningenieure, Assistenten,
Musiker, ja sogar der Produzent selbst übernah-
men dabei die einzelnen Parameteränderungen.
Der eine regelte zum exakt richtigen Zeitpunkt die
Gitarre leiser, ein anderer fuhr die Keyboards im
Refrain nach oben, alles musste regelrecht ein-
studiert werden und wenn ein Beteiligter einen
Fehler machte, musste die gesamte Prozedur wie-
derholt werden. Paradoxerweise glich dieses Ein-
studieren des Mixdown-Ablaufs einer eigenen
Performance im Sinne und zum Wohle der Musik
und damit der Art von Interaktion, die man durch
das Overdubbing und das Close-Miking eigentlich
mehr und mehr hinter sich gelassen hatte.
Paradoxerweise glich dieses Einstudieren des
Mixdown-Ablaufs einer eigenen Performance.«
Automation —
VCAs und Motorfader
Dieser kurze Rückblick in die Vergangenheit
macht deutlich, welche Revolution durch die
ersten Automations-Systeme für analoge
Mischpulte ausgelöst wurde.
Die Notwendigkeit
der „vielen Hände“ wurde überflüssig, man über-
ließ die Steuerung und die Speicherung der Bewe-
gungen von nun an dem Computer. Die ersten
Mischpult-Automationssysteme wurden in den
späten 70er-Jahren verfügbar. Das Konzept der
sogenannten VCA-Automation stellte schließlich
den ersten Schritt in die Richtung einer automa-
tisierten Arbeitsweise während des Mixings dar.
Bei einem VCA (engl. = Voltage Controlled
Amplifier) handelt es sich um eine spannungs-
geregelte, elektronische Verstärkerschaltung.
Der Grad der Verstärkung erfolgt hier-
bei durch eine geringe Steuerspannung
und ist über diese somit dynamisch
regelbar. Ein separater Automations-
Computer verarbeitet die digitalgewan-
delten Informationen der VCA-Steuer-
spannung, wacht über die Regelvor-
gänge und Parameterveränderungen
und stellt diese schließlich über ent-
sprechende LED-Leuchten auf dem
Mischpult dar. Der große Nachteil die-
ser Technologie war und ist, dass sich
die Fader und Potis bei dynamischen
Regelvorgängen nicht mitbewegen. Sie
bleiben in ihrer statischen Position, die
eine gänzlich andere sein kann, als die
tatsächlich über den VCA übermit-
telten Werte. Für die Kontrolle der Fa-
derstellungen musste deshalb ein
Computermonitor bemüht werden. Für
Fülle an verschiedenen Einspielungen auf vielen
Tracks vor sich, die aber zu einem Großteil nicht
mit einem gemeinsam erlebten Gefühl und Ver-
ständnis von zum Beispiel Lautstärkeentwick-
lungen oder Artikulationsveränderungen ent-
standen waren.
Durch Bearbeitung auf den vielen Dutzend
Mischpultkanälen musste so aus den isoliert
entstandenen Einzelspuren beim Mixing wie-
der eine gemeinsame klangliche Entwicklung
nachgebaut werden.
Ein Toningenieur hat je-
doch nur zwei Hände, und kann folgerichtig bei
einem Echtzeit-Mixdown auf Band nur zwei Reg-
ler gleichzeitig bewegen. Um eine Mischung mit
vielen Spuren dynamisch zu kontrollieren und zu
bearbeiten bedarf es hingegen mehrerer Hände.
Auch wenn es ein komisches Bild sein mag, beim
Hier sieht man den Signalfluss eines Audiosignals bei
einem klassischen Fader ...
... und hier könnt ihr den Signalfluss sehen, wie er bei
einer VCA-Gruppe stattfindet.
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Praxistipp
Vocal-Automation als Ersatz
für einen DeEsser
Sorgfältiger und gezielter Einsatz von Lautstär-
ke-Automation kann während der Produktion
viele Probleme lösen. So können beispielsweise
durch detaillierte Bearbeitung bestimmte
Aufgaben von anderen Geräten manchmal viel
genauer erledigt werden. Ein DeEsser regelt die
Lautstärke eines Signals sehr schnell herunter,
sobald eine bestimmte Frequenz (meistens
scharfe S- oder Zischlaute) einen gewissen
Pegel-Schwellenwert überschreitet. Durch sorg-
fältige und genaue Lautstärken-Automation in
hoher Zoomauflösung der Wellenform lassen
sich diese Regelvorgänge oftmals noch um
Einiges exakter und wirkungsvoller realisieren,
als dies mit einem normalen DeEsser möglich
wäre. Ebenso können auf diese Art und Weise
Knackser und sonstige Störgeräusche effektiv
ausgeblendet oder ganz eliminiert werden.
Automation stellt in diesen Fällen eine sinnvolle
Alternative zur klassischen Arbeitsweise dar.
le so ziemlich jeder Parameter grafisch automa-
tisiert werden. Nicht nur die Bewegungen von
virtuellen Lautstärke-Fadern, Panorama-Potis,
Send-Reglern, Mute- und Solo-Schaltern kön-
nen aufgezeichnet, beliebig editiert und wie-
dergegeben werden, sondern jeder einzelne Pa-
rameter von EQs, Plugins, Software-Instrumen-
ten und Insert-Elementen kann in die individuell
automatisierte Arbeitsweise integriert werden.
Im Arranger-Fenster des Sequenzers werden die
Automationsdaten dann übersichtlich als gra-
fische Linien auf eigenen Spuren dargestellt,
und die Bearbeitung mit den verschiedenen zur
Verfügung stehenden Werkzeugen ist intuitiv,
effektiv und führt schnell zu den gewünschten
klanglichen Ergebnissen.
Unterschiedliche Automations-Modi wie
Read, Write, Touch, Latch, Trim und Off hel-
fen dabei, die Daten über die sogenannte Li-
ve-Automation während der laufenden Wie-
dergabe der Mischung gezielt aufzuzeichnen
und/oder abzurufen.
Natürlich können Para-
meter-Verläufe jederzeit auch von Hand mit Hil-
fe des Pencil-Tools eingezeichnet werden. So ist
eine besonders detaillierte Arbeitsweise auf der
minimalen Bereichsebene von bis zu einzelnen
Samples möglich. Hierbei hilft bei hohem Zoom-
faktor die Exaktheit der Eingabe über eine Maus
oder über numerische Werte, allerdings wird
fens“ in die Regelvorgänge und die Verwirkli-
chung der kreativen Klangvorstellung zu einem
Prozess verschmelzen.
Automation: Erstes und
wichtigstes Werkzeug
für guten Sound
Und genau darum geht es letztlich. Automati-
on ist das perfekte Mittel, die eigene Vision
des Sounds und der musikalischen Entwicklung
eines Songs von Grund auf zu erschaffen, zu
gestalten und zu kontrollieren.
Besonders unter
den heutigen Produktionsbedingungen und -
möglichkeiten, die dazu führen, dass oftmals viele
relativ unzusammenhängende Soundquellen, Spu-
ren, Live-Einspielungen, Samples und Takes zu
einer homogenen und musikalischen Mischung
vereint werden müssen ist die Automation der
DAW-Systeme das mit Abstand wichtigste und
mächtigste Tool. Diese Tatsache lässt euch sicher
erstaunen, denn teure Mikrofone, gutes Outboard,
Kompressoren, EQs und Effektgeräte erscheinen
uns meistens viel wichtiger als Voraussetzung für
guten und musikalischen Sound. Doch dieser ent-
steht bei jeder Produktion vor allem durch gut
gestaffelte Lautstärkeverhältnisse und durch mu-
sikalisch motivierte, dynamische Bewegung der
wichtigen Parameter der einzelnen Instrumente.
Über die Möglichkeiten der Automation lassen
sich Spannungsbögen, Interaktionen von Instru-
das Verständnis des Konzepts ist es wichtig zu
realisieren, dass hier der VCA die Veränderung
(zum Beispiel Lautstärkeveränderung am Fader)
hervorruft, und nicht der Fader.
Eine konsequente Weiterentwicklung des
VCA-Automationskonzepts stellt die Techno-
logie der großen, durch Motorfader gesteu-
erten Mischpult-Konsolen dar.
Besonders die
legendären Mischpulte von SSL oder Neve be-
eindrucken mit dem sogenannten „Flying Fa-
ders“-Automationskonzept. Hier werden eben-
falls kleine VCAs dazu benutzt, die Regelvorgän-
ge über eine Steuerspannung aufzunehmen, zu
wandeln, zu kontrollieren und zu manipulieren,
allerdings treiben diese einen jeweils im Fader
befindlichen Motor an, der wiederum den Fader
in die richtige Stellung fährt. Somit entspricht
die Faderstellung immer dem tatsächlichen
VCA-Status des Tracks. Während der Wiederga-
be bewegen sich die Fader wie von Geisterhand
– der Grund für die Bezeichnung „Flying/Moving
Faders“ und in Kombination mit den unzähligen
automatisierten LEDs der Konsole ein spektaku-
läres Schauspiel. Motorfader finden man heute
ebenfalls in allen gängigen Digitalmischpulten.
»
Parameter-Verläufe können jederzeit auch von Hand
mit Hilfe des Pencil-Tools eingezeichnet werden.«
menten und gemeinsame klangliche Artikulati-
onen erschaffen. Eine sorgfältige und bewusste
Anwendung der vielfältigen Automationsmög-
lichkeiten während einer Produktion, mit welchen
man versucht, die eigene innere Klangvorstellung
der Musik umzusetzen ist eines der großen Ge-
heimnisse für einen guten, transparenten, ein-
drucksvollen und vor allem musikalischen Sound.
Norman Garschke
man die tatsächlich intuitiven Vorzüge der Au-
tomation vor allem über die Verwendung eines
Controllers erfahren. Ob es sich dabei nun um
eine einkanalige Fader/Poti-Lösung oder um ei-
nen komfortablen Mischpult-Controller mit bis
zu 24 Kanalzügen handelt ist letztlich egal; die
berührungsempfindlichen Fader, Taster und Po-
tis ermöglichen nämlich ein schnelles und intui-
tives Arbeiten, bei dem die Haptik des „Eingrei-
Autor: Norman Garschke
Der Computer übernimmt
Kaum ein Toningenieur hätte in den 70/80er-
Jahren wohl zu träumen gewagt, wie weitrei-
chend die Eingriffsmöglichkeiten in die dy-
namischen Prozesse einer Mischung heute
sein würden.
Über das Interface des Computer-
Sequenzers der digitalen DAW kann mittlerwei-
Die HOFA-Studios zählen seit über 20 Jahren zu
den größten und beliebtesten professionellen
Tonstudios in Deutschland und bieten mit HOFA-
Training ein staatlich zertifiziertes, modulares
Ausbildungskonzept im Audio-Bereich an. HOFA-
Audio-Engineer Norman Garschke ist erfahrener
Produzent, Musiker und Autor des Fernkurses
HOFA-Training BASIX.
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