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Workshop: producers secrets
Producers Secrets – Teil 6
Origami – Falte deinen Raum
Seit Beginn des neuen Jahrtausends wurde im Zuge der sich stetig und rasant weiter
entwickelnden Rechenleistungen von Computersystemen eine Technologie zur Simulation
von Hall und künstlicher Räumlichkeit verfügbar, welche besonders die Arbeit und die
klanglichen Möglichkeiten in der Musikproduktion revolutioniert hat. Das Prinzip des
Faltungshalls ermöglicht seither die Verwendung des charakteristischen Nachhalls tatsächlich
existierender Räume und Umgebungen in einer faszinierend realistischer Klangqualität.
Die Technologie der Faltung (engl. Convoluti-
on) ist für Nachrichtentechniker ein ver-
gleichsweise „alter Hut“.
Das Prinzip, dass man
mit Hilfe eines bestimmten, einmal gemessenen
Übertragungsverhalten eines systems (zum Bei-
spiel eines realen Raumes, oder eines Geräts) das
systemverhalten eines beliebigen signals vor-
hersagen kann ist bereits seit Jahrzehnten be-
kannt. Erstellt man von einem realen Raum eine
so genannte Impulsantwort (engl. IR=Impulse
Response) seines räumlichen Verhaltens, so lässt
sich diese wie ein akustischer Fingerabdruck mit
jedem anderen audiosignal verschmelzen. als
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ie historischen anfangsjahrzehnte der
Musikproduktion kannten noch keine
Geräte zur künstlichen Hallerzeugung.
Räumlichkeit wurde damals noch ausschließlich
über den realen Klang der aufnahmeräume des
studios realisiert. spezielle Hallkammern und
Echochambers, in welche die noch trockenen
audiosignale über Lautsprecher eingespielt wur-
den lieferten eine nachträgliche Räumlichkeit,
die den spuren nach Belieben hinzugemischt
werden konnte. Nach und nach verwendete man
für die räumliche simulation auch metallene
Hallplatten (zum Beispiel EMt 140) oder goldbe-
schichtete Hallfolien (zum Beispiel EMt 250),
die anfang der 70er-Jahre schließlich von den
ersten echten Hallgeräten abgelöst wurden. Die-
se Geräte nutzten komplizierte – und von den
Herstellern wie ein staatsgeheimnis gehütete –
algorithmen, welche in Verbindung mit aufwän-
digen Filter- und Delayschaltungen eine äußerst
flexible Hallerzeugung ermöglichten. Mit Hilfe
dieser zu 100 % errechneten Raumeigenschaften
konnten aufgrund der flexibel definierbaren Pa-
rameter alle erforderlichen aufgaben während
einer Musikproduktion erfüllt werden. allerdings
waren die so entstandenen jeweiligen Hallsimu-
lationen auch mit noch so komplexen algorith-
men nur annähernd mit einem realistischen
Raumverhalten vergleichbar. Die suche nach
mehr Echtheit musste also weitergehen ...
Faltung – ein bekanntes
Prinzip aus der Elektrotechnik
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Die Firma audioease bietet mit dem altiverb ein Plugin, das in vielen verschiedenen Interface-ansichten eine detaillierte und professionelle Bearbeitung des Faltungsvorgangs ermöglicht.
klangliches Ergebnis erklingt das ursprüngliche
audiosignal plötzlich in der durch die Impulsant-
wort des Raumes definierten Räumlichkeit. Das
signal scheint wie in diesen realen Raum hinein-
gesetzt, obwohl es eigentlich in Wirklichkeit
dort nie erklungen ist – ein Realismus, der un-
gläubig staunen lässt, fasziniert und überzeugt.
Wie ist das möglich? Zuallererst benötigt man
die klangliche Signatur, das charakteristische
und individuelle Reaktionsverhalten des Rau-
mes auf ein Schallereignis.
Hierzu muss der
Raum zum antworten angeregt werden, diese
antwort (Impulsantwort) wird wiederum über ei-
ne klassische Mikrofonierung aufgenommen. In
den meisten Fällen kommt hierfür ein möglichst
kurzer und lauter Impuls zum Einsatz, idealerwei-
se ein speziell dafür erstellter Dirac-stoß (be-
nannt nach dem britischen Physiker Paul Maurice
Dirac), ein Pistolenschuss, lautes Händeklatschen
oder ein Knall eines explodierenden Luftballons.
Manchmal nutzt man auch einen sinus-sweep
durch das gesamte hörbare Frequenzspektrum
zwischen 20 Hz und 20 kHz oder ein alle Fre-
quenzen enthaltendes weißes Rauschen. Wichtig
ist in jedem Fall, dass der Raum nur ultra-kurz
angeregt wird, damit seine charakteristische
Echoantwort möglichst ohne den ursprünglichen
akustischen Impuls aufgenommen werden kann.
Verwendet man einen sinus-sweep, so kann der
auf der aufnahme verbleibende ton über ein spe-
zielles Verfahren (Deconvolving, in verschiedenen
Plugins verfügbar) wieder herausgerechnet wer-
den. Bei den impulshaften Varianten ist ein De-
convolving nicht erforderlich.
Komplexe Berechnung jedes
einzelnen Samples
Die so erstellte IR kann nun in einen Player,
meist ein spezielles Faltungshall-Plugin gela-
den werden.
Dort wird sie auf jedes einzelne
sample des zu verhallenden audiosignals „auf-
gerechnet“. somit wird tatsächlich jedes einzel-
ne sample für sich mit der Raumantwort in der
jeweiligen Lautstärke „verhallt“ – ein unglaub-
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Workshop: producers secrets
lich rechenintensiver Vorgang, der nur mit sehr
leistungsstarken und schnellen Computerchips
zu realisieren ist. tatsächlich wird die Berech-
nung in den meisten Playern zusätzlich durch
bestimmte Reduzierungen, geschickte Verschie-
bungen und aufteilungen auf ein erträgliches
und praktikables Maß eingeschränkt, um eine
Verwendung des Faltungshalls unter sehr gerin-
gen Latenzen oder sogar in Echtzeit auch auf
mehreren spuren gleichzeitig zu ermöglichen.
Doch die intensiven Berechnungen zahlen
sich klanglich aus.
Durch die Faltung kann je-
des trockene audiosignal in jede beliebige, durch
eine erstellte IR konservierte Räumlichkeit der
Welt gestellt werden. so ist es beispielsweise
kein Problem, die Leadvocals einer Produktion
mit dem einzigartigen Nachhall des amsterda-
mer Concertgebouws oder des indischen taj Ma-
hals zu versehen. Entsprechende Impulsantwor-
ten sind in allen Playern oder über das Internet
in großer anzahl verfügbar. Das angebot reicht
von den berühmten Konzertsälen, Kirchen, Ka-
thedralen oder opernhäuser dieser Erde über
unzählige aufnahmeräume renommierter ton-
studios bis hin zu sehr ungewöhnlichen Umge-
bungen und Räumlichkeiten. Es ist nämlich durch-
aus möglich, auch sehr unkonventionelle Räume
als ausgangspunkt für die Erstellung von Impul-
santworten zu wählen. Vielleicht liefert der ei-
gene Kellerraum, ein Kleiderschrank oder das
Der sIR2 von Christian Knufinke ist ein sehr gutes
Faltungs-Plugin zu einem fairen Preis und stellt alle
wichtigen Bearbeitungsmöglichkeiten uneingeschränkt
zur Verfügung.
Auch der renommierte Plugin-Hersteller Waves hat
ein leistungsstarkes Faltungs-Plugin im Programm:
Der IR-L hält alle notwendigen Features in seinem
Interface bereit.
»
Innere eines autos eine für die Musikproduktion
perfekte oder effektvolle Räumlichkeit. Nicht
selten wird das Impulsverhalten kleiner schach-
teln oder Dosen abgefaltet, um möglichst origi-
nelle Raumeffekte zu erzielen. all diese IRs er-
möglichen eine nahezu perfekte und realistische
simulation der tatsächlichen Umgebung.
Ein weiterer großer Schwachpunkt der Fal-
tungstechnik und deren Verwendung für das
Verhallen von Audiosignalen ist das Problem
der statischen räumlichen Zuordnung.
Beim
Erstellen der Impulsantwort nutzt man eine be-
stimmte festgelegte Position im abzufaltenden
Raum. Der abstand zu Wänden und Decken,
Durch die Faltung kann jedes trockene Audiosignal
in jede Räumlichkeit der Welt gestellt werden.«
ebenso wie die eigentliche Größe des Raumes
und die genaue Positionierung des Mikrofons
definieren den unveränderlichen Eindruck der
Parameter Nähe, Größe, Weite und Dimension.
Letztlich dürfte man diese Impulsantwort also
ausschließlich auf signale mit eben genau die-
sen Eigenschaften anwenden. Dies ist allerdings
nur in sehr seltenen Fällen der Fall. auch aus die-
sem Grund stellt die Flexibilität der algorith-
mischen Reverbs einen unbedingten Vorteil für
die anforderungen im Rahmen einer Musikpro-
duktion dar, da hier die einzelnen signale oft
über genau diese Parameter nachträglich im vir-
tuellen Raum platziert werden können.
Vor- und Nachteile des
klanglichen Realismus
Auch wenn die unglaublich realistische Simula-
tion von Hallräumen, die durch das Prinzip der
Faltungstechnik verfügbar wurde faszinierende
Klangeigenschaften ermöglichte,
gab und gibt
es nach wie vor gute argumente für den Einsatz
konventioneller algorithmischer Hallgeräte oder
Plugins. Die Berechnung aller für den Nachhall re-
levanten Parameter auf der Basis komplexer Glei-
chungen ermöglicht eine vollkommen flexible und
frei definierbare Gestaltung der künstlichen Räum-
lichkeit. Nutzt man eine bestimmte Impulsantwort
eines echten Raumes, so wird das damit verhallte
Ergebnis immer nach eben genau diesem Raum
klingen, auch wenn man in den verschiedenen
Playern einige Parameter durch Filter oder Hüll-
kurven noch etwas verändern kann. Durch die aus-
wahl der IR legt man den Klang des Halls letztlich
weitestgehend fest, beim Einsatz eines algorith-
mischen Reverbs hat man zu jedem Zeitpunkt alle
Bearbeitungsmöglichkeiten. Längeres oder kürze-
res Pre-Delay, dumpfere oder hellere Nachhall-
phase, dichteres oder transparenteres Reflexions-
muster – all dies kann beim Hallalgorithmus frei
gewählt werden. Darüber hinaus können so auch
„sehr irreale“ und ungewöhnliche Räumlichkeiten
erschaffen werden, die es so im wirklich Leben
überhaupt nicht gibt oder geben kann.
Wissen
Hohes Datenaufkommen
Ein bei einer samplerate von 44.1 kHz digi-
talisiertes audiosignal wird in einer sekunde
44.100 mal abgetastet, wobei genauso viele
sampleschritte entstehen. Jedes einzelne
sample für sich genommen klingt dabei wie
ein ultrakurzer Knack-Impuls. Würde man
diesen in einem Raum abspielen oder hören, so
würde der Raum in der gleichen art und Weise
klanglich angeregt, wie bei der Erstellung einer
Impulsantwort mit Hilfe eines Dirac-stoßes,
eines Luftballon-Knalls oder eines Pistolen-
schusses. Demnach würde sich ein audiosignal
in diesem Raum aus 44.100 Impulsantworten
unterschiedlicher Lautstärken zusammensetzen.
Bei der Faltung wird genau dieser Vorgang mit
Hilfe der einmal erstellten Impulsantwort simu-
liert. Jedes der 44.100 samples wird schließ-
lich rechnerisch mit der charakteristischen
Impulsantwort verschmolzen. Da bei diesem
Vorgang große Datenmengen und umfangreiche
Berechnungen anfallen, nutzen die verschiede-
nen Faltungs-Plugins effiziente Verfahren zur
deren Reduzierung.
Auch Faltung liefert kein
perfektes Ergebnis
Die Qualität des klanglichen Ergebnisses einer
durch Faltung realisierten Verhallung eines
Audiosignals hängt maßgeblich von der Hoch-
wertigkeit der verwendeten Impulsantwort
ab.
Leider liegt bereits hierin ein prinzipielles
Problem, denn einen perfekten Impuls gibt es in
diesem sinne eigentlich nicht. Ein perfekter Im-
puls kommt in der Realität strenggenommen
nicht vor, da er als ein unendlich kurzes und un-
endlich lautes signal definiert ist. Deshalb stellt
jede Form von verwendetem Impuls, ob nun DI-
RaC-stoß, Luftballon-Knall, sinus-sweep oder
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Wann Faltung –
wann klassisches Hallgerät?
Bleibt die Frage, in welcher Situation man
sich während einer Produktion für welches
Gerät für die angestrebte räumliche Simula-
tion entscheidet.
Generell kann man sagen,
dass die Verwendung eines Faltungshalls immer
dann eine gute Wahl darstellt, wenn man für die
Produktion besonders wichtige und „promi­
nente“ Signale verhallen möchte. Eine Leadstim­
me nehmen wir besonders deutlich, bewusst und
deshalb auch kritisch wahr. Hier erwarten wir
eine möglichst hochwertige und realistische
Raumsimulation. Ebenso für die nachträgliche
Simulation von bei der Aufnahme nicht vorhan­
denen großen Drum­Räumen bietet sich ein gut­
klingender Faltungshall eines echten Raumes
sehr gut an. Eine weitere sinnvolle Anwendung
ist darüber hinaus die Verwendung während der
Nachvertonung von Film­ oder Hörspielmaterial
in einer Post­Production­Situation.
Für alle Situationen und Signale, in denen
ein Reverb eher im Hintergrund der Wahr-
nehmung stattfinden wird, oder wo man
sehr auf die flexible Handhabung der einzel-
nen Parameter angewiesen ist bietet sich die
Verwendung eines guten algorithmischen
Halls an.
Man darf bei aller Faszination für die
klangliche Güte, welche die Faltungs­Technolo­
gie verfügbar macht nicht vergessen, dass sehr
realistische und revolutionäre Produktionen mit
ausschließlich algorithmischen Hallgeräten er­
stellt wurden. Faltung ist so gesehen eine Be­
reicherung der bestehenden Möglichkeiten
räumlicher Simulation und macht eine nahezu
perfekte Abbildung realer Räume und Umge­
bungen möglich. Experimentiert bei Euren Pro­
duktionen am besten selbst mit beiden Techno­
logien und findet so nach und nach die für eure
eigenen musikalischen Zwecke geeignete Ar­
beitsweise und Verwendung.
Norman Garschke
Künstlich klingende aber auch reale Räume sind möglich:
Professionelle Algorithmus­Hallgeräte bieten vielfältige
Bearbeitungsmöglichkeiten der einzelnen Hall­Parameter.
weißes Rauschen bereits einen erheblichen phy­
sikalischen Kompromiss dar. Darüber hinaus tre­
ten bei der Erstellung der IR zusätzlich behin­
dernde Einflüsse auf, die alle letztlich zu einer
Verschlechterung der Qualität der Impulsantwort
beitragen. Hierzu zählen normale störende Um­
gebungsgeräusche ebenso wie beispielsweise
Verzerrungen, Rauschen oder anderweitige klang­
liche Unzulänglichkeiten im Übertragungsweg
bei Mikrofonen, Vorverstärkern, Kabeln oder
Aufnahmesystemen. Nur mit größter Sorgfalt,
Erfahrung und unter Einsatz von hochwertigsten
Geräte­Komponenten während der Aufnahme
können diese Schwierigkeiten auf ein Minimum
begrenzt werden, um somit eine möglichst gute
Impulsantwort erstellen zu können.
Wie faltet man seinen
eigenen Raum?
Hat man sich einmal für eine der möglichen
Arten, den Raum zum „Antworten“ anzuregen
entschieden, so sorgt man zuerst dafür, dass
das jeweilige Signal unbeeinflusst und in bester
Qualität im Raum abgespielt und wiedergege-
ben werden kann.
Dies kann beispielsweise durch
ein gutes Fullrange­Boxensystem, das im Raum an
der akustisch besten oder charakteristischsten Po­
sition aufgestellt wird gewährleistet werden. Die
Lautstärke des verwendeten Impulses muss natür­
lich entsprechend hoch sein, damit der Raum auch
angemessen „antworten“ kann und somit seine
individuelle Signatur offenbart. Die Antwort wird
in der Regel über ein hochwertiges und transpa­
rent klingendes Stereo­Mikrofon­Paar in großer
AB­Anordnung abgenommen und gelangt so über
möglichst neutral klingende Vorverstärker auf eine
Spur der DAW. Hat man mit einem Sinus­Sweep
gearbeitet muss die so entstandene Aufnahme
noch über ein entsprechendes Plugin deconvolut­
ed, also vom Original­Sound des Sweeps gereinigt
werden. Bei kurzen Stößen ist diese Prozedur nicht
erforderlich, diese können sofort in einen entspre­
chenden IR­Player geladen und verwendet wer­
den. Bei der Aufnahme ist selbstverständlich dar­
auf zu achten, dass keine Störgeräusche aus der
Umgebung, Rauschen von Geräten, Mikrofonen
oder Vorverstärkern die Impulsantwort ver­
schmutzen. Diese Prozedur lässt sich wie bereits
erwähnt theoretisch auf alle möglichen und denk­
baren Umgebungen, Räumlichkeiten, Hohlräume,
ja sogar auf Hardware­Geräte anwenden. Beson­
ders klassische Hallgeräte oder EQs lassen sich auf
diese Weise „abfalten“, aber eben auch genauso
gut Waldlichtungen, Mülleimer, Strassen­
schluchten usw. Der eigenen Fantasie sind hierbei
keine Grenzen gesetzt.
Autor: Norman Garschke
Die HOFA-Studios zählen seit über 20 Jahren zu
den größten und beliebtesten professionellen
Tonstudios in Deutschland und bieten mit HOFA-
Training ein staatlich zertifiziertes, modulares
Ausbildungskonzept im Audio-Bereich an. HOFA-
Audio-Engineer Norman Garschke ist erfahrener
Produzent, Musiker und Autor des Fernkurses
HOFA-Training BASIX.
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