Workshop: producers secrets
Die Stereo-Mikrofonie in M/S
steht zu Unrecht im Schatten der
etablierten und bekannten Techniken
der Mikrofonierung in A/B- oder
X/Y-Anordnung. Die vermeintlichen
Schwierigkeiten des Decodings
über eine entsprechende Spur-
Matrix sollten jedoch nicht vor
einer Verwendung dieser Technik
im Studioalltag abschrecken,
da sie für viele tontechnische
Anwendungen während der
Produktion viele Vorteile bietet.
D
ie Mikrofonierung von Instrumenten
oder signalanteilen in stereo gehört zum
grundlegenden Handwerk eines tontech­
nikers; und nicht nur während einer Musik­
produktion kommen die verschiedenen verfüg­
baren Methoden regelmäßig zum Einsatz. Die
Produktion von mit akustischen atmosphären
kombinierten Wortbeiträgen für Hörbücher, Hör­
spiele oder Filme profitiert ebenso wie musika­
lisches Material von der realistischen abbildung
von im stereo­Panorama unterschiedlich verteil­
ten signalanteilen. Man denke nur an die abbil­
dung klassischer Musik des gewaltigen Klang­
körpers eines symphonieorchesters, besonders
hier wird die sinnvolle anwedung einer stereo­
Mikrofonierung deutlich.
Stereofonie – verschiedene
Aufnahmetechniken
Eine Aufzeichnung über eine Stereo-Mikro-
fonierung hat immer zum Ziel,
die akustische
Entwicklung des sounds in seiner unmittelbaren
räumlichen Umgebung abbzubilden. aus diesem
Grund werden die Mikrofone, welche zur stereo­
Producers Secrets – Teil 11
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Stereo-Mikrofonie im
Mid-/Side-Verfahren
aufzeichnung eingesetzt werden immer in einem
ausreichend großen abstand/Höhe zur Klang­
quelle positioniert, um ein ausgewogenes Ver­
hältnis zwischen Direktschall, Reflexionen und
Nachhall einfangen zu können. Recht bekannt
sind zwei unterschiedliche ansätze, welche beide
jeweils ein Mikrofon oder ein mit zwei Kapseln
ausgestattetes stereo­Mikrofon nutzen; wobei
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die damit aufgenommenen signale jeweils einem
Kanal der beiden stereoseiten rechts und links
zugeordnet werden.
Das Verfahren der Intensitätsstereophonie
bildet dabei das Stereopanorama lediglich
aufgrund von Pegelunterschieden zwischen
dem rechten und linken Kanal ab.
Erklingt ein
signal über das rechte Mikrofon lauter aufge­
zeichnet und folglich im rechten Kanal pegelin­
tensiver, so verschiebt sich dadurch auch unsere
Wahrnehmung der Richtung, aus der das signal
kommt. Wir hören eine Verschiebung im stereo­
panorama, wohingegen eine gleichlaute abbilung
der signale über beide seiten den Eindruk eines
in der Mitte positionierten signals in uns hervor­
ruft. Das X/Y­Verfahren zählt zu den Methoden
der Intensitätsstereophonie; dabei werden die
Kapseln zweier Kondensatormikrofone in Nieren­
charakteristik so nah wie möglich übereinander
angeordnet, um Laufzeitunterschiede bei der auf­
nahme zu vermeiden. Die Laufzeitstereophonie
nutzt eine unterschiedliche abbildung der linken
und rechten signalanteile über zwei in recht gro­
fonierung. Besonders die absolute Mono­Kom­
patibilität dieser art der stereoabbildung ist eine
Eigenschaft, die alle anderen stereo­aufnahme­
verfahren nicht bieten. Wird eine M/s­stereo­
aufnahme über ein Monosystem wiedergegeben,
entstehen keine unerwünschten Frequenzverschie­
bungen oder einseitige ausprägungendes stereo­
panoramas, weshalb diese technik besonders für
die stereo­abbildung von audio für Funk und
Fernsehen geeignet ist, einem nach wie vor recht
häufig monophon abgehörten medialen Bereich.
Als weitere große Vorteile der M/S-Mikro-
fonie sind zudem die große Richtungstreue
der Stereoabbildung zu nennen,
ebenso wie die
Möglichkeit, auch nach der eigentlichen auf­
nahme die tatsächliche stereobreite des audio­
materials flexibel anpassen und verändern zu
können. all diese Vorzüge werden dadurch er­
möglicht, dass bei der M/s­Mikrofonierung das
aufzuzeichnende stereosignal nicht wie gewohnt
in einen linken und einen rechten Kanal aufge­
teilt wird, die signalinformationen dafür viel­
mehr auf einen Mittenkanal und einen seiten­
Eine Decoding­Matrix für
M/s­signale ist in jeder
beliebigen DaW relativ
einfach über drei Kanal­
züge realisierbar. Hier ein
Beispiel in Protools 8. Das
trim­Plugin auf Channel 3
dient der Phasendrehung
des dort anliegenden
signals.
ßem abstand voneinander positionierten Mikro­
fonen. Ein mittiges signal der schallquelle erreicht
beide Nieren­Kapseln der Kondensatormikrofone
zur gleichen Zeit. Ist das Instrument allerdings
nach links oder rechts verschoben, erreichen die
schallwellen die beiden Mikrofone aufgrund des
längeren und kürzeren Weges des zurückgelegten
schalls leicht zueinander verschoben. Genau diese
leichte zeitliche Verzögerung wird von unserer
Wahrnehmung als entsprechende Richtung inter­
pretiert und übersetzt. Das a/B­Mikrofonier­
ungsverfahren zählt somit zu den Methoden der
Laufzeitstereophonie. Natürlich ist bei beiden an­
gesprochenen Mikrofonierungstechniken eine
identische Phasenlage der beiden signale von
größter Wichtigkeit, da sonst durch Kammfilter­
effekte starke Klangfärbungen oder ungewollte
auslöschungen bestimmter Frequenzanteile der
signale auftreten können.
»
niert das aufnehmen in M/s nun in der Praxis?
Ebenso wie bei den bereits angesprochenen ste­
reo­Mikrofonierungstechniken a/B und X/Y be­
nötigt man zwei Mikrofone bzw. Kapseln, welche
die unterschiedlichen signalanteile Mitte und
seite aufzeichnen.
Ein Mikrofon mit einer Richtcharakteristik
von Kugel bis Hyperniere wird wie bei einer
Mono-Mikrofonierung klassisch auf die
Schallquelle ausgerichtet und zeichnet durch
diese Positionierung den direkten Hauptanteil
des aufzunehmenden Signals auf.
Mit einem
weiteren Mikrofon sollen nun die für den
stereo­Eindruck wichtigen seiteninformationen
des signals abgebildet werden. Dieses zweite
Mikrofon ist idealerweise ein Druckgradienten­
empfänger mit der Richtcharakteristik acht. Die
Positionierung des s­Mikrofons sollte so erfol­
Das X/Y-Verfahren zählt zu den Methoden
der Intensitätsstereophonie.«
kanal verteilt werden. Die abkürzung M/s steht
dabei sinnigerweise für Mid/side. Für die auf­
nahme werden entweder zwei Mikrofone mit
unterschiedlichen Richtcharakteristiken verwen­
det oder aber ein kombiniertes, M/s­fähiges Mi­
krofon genutzt, welches die zwei erforderlichen
Kapseln in einem Gerät vereint. Doch wie funktio­
Das M/S-Mikrofonieverfahren
Eine ernstzunehmende Alternative zu diesen
beiden gängigsten Techniken der Stereo-Mi-
krofonierung stellt das M/S-Verfahren dar,
welches strenggenommen ebenfalls als eine
Variante der Intensitätsstereophonie bezeichnet
werden kann. Es bietet trotz seiner scheinbar
komplizierteren Umsetzung und Handhabung ei­
nige Vorteile gegenüber der X/Y­ und a/B­Mikro­
Dieses Schaubild verdeutlich schematisch die Aufzeichnung und das Routing, welches bei einer
M/S-Mikrofonierung zum Einsatz kommt.
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Workshop: producers secrets
gen, dass der achsenwinkel zur M­Kapsel 90°
beträgt und die positive Polung des achter­
mikrofons nach links ausgerichtet ist. Normaler­
weise ist dies die „Vorderseite“ des Mikrofons,
auf der sich der schriftzug oder das Markenlogo
des Herstellers befinden.
Da das M/S-Mikrofonieverfahren nach den
Prinzipien der Intensitätsstereofonie funktio-
niert, sollten idealerweise keine Laufzeitunter-
schiede durch Abstand der beiden Kapseln zu-
einander entstehen.
Natürlich ist dies in der
Praxis unmöglich, denn zwei Kapseln können nicht
unendlich nah beieinander positioniert werden.
trotzdem versucht man meist durch senkrechte
Positionierung der Mikrofone übereinander den
Kapselabstand so gering wie möglich zu halten.
Dabei wird beispielsweise das M­Mikrofon unter
dem um 90° gedrehten und kopfüberaufgehan­
genen s­Mikrofon aufgebaut, sodass sich die bei­
den Kapselkörbe beinahe berühren.
Bei dieser Beschreibung des Aufbaus der
Mikrofone wird bereits die Komplexität des
Verfahrens deutlich,
jedoch treten auch Vor­
teile, die eine M/s­Mikrofonierung bietet, sehr
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Mitten- und Seitenmikro werden im 90°-Winkel zueinander angeordnet, wobei beide Kapseln unmittelbar beieinander sind.
Wissen
Erklärung der Phasenauslöschung
Um die Vorgänge der Phasenauslöschungen zu
erklären, die beim M/s­Decoding stattfinden,
damit aus den in Mitten­ und seitensignal
aufgeteilten stereo­Informationen wieder ein
gewohntes Links/Rechts­signal entsteht ist
hilft ein kleiner ausflug in die Mathematik.
Für die Encodierung der beiden M/s­Kanäle
gelten folgende einfache Gleichungen:
M= L + R
S=L-R
Wie wir in der Darstellung des Decoding­
Prozesses gesehen haben wird das L/R­signal
durch das beschriebene Routing dreier Misch­
pultkanäle realisiert. Dabei gelten folgende
Decoding­Gleichungen:
L = M + S
(S-Signal mit positiver Phasen-
lage auf die linke Seite gepannt)
R = M - S
(S-Signal mit negativer Pha-
senlage auf die rechte Seite
gepannt)
setzen wir die obigen aussagen für M und s
in die unteren Gleichungen ein, erhalten wir:
L = (L + R) + (L - R)
R = (L + R) + (R - L)
Nach einigem Rechnen ergibt sich daraus
als ersehntes Ergebnis unser gewohntes R/L­
stereo­signal.
anschaulich zutage. Durch die Verwendung eines
mittig und direkt auf die schallquelle ausgerich­
teten Mono­Mikrofons für die Mitteninforma­
tionen wird eine absolute Monokompatibilität
des signals gewährleistet. Werden die seiteninfor­
mationen komplett ausgeblendet oder nur sehr
leise eingesetzt bleibt immer noch ein stabiles,
mittiges Mono­signal ohne Phasenprobleme be­
stehen. Durch die direkte ausrichtung auf die
schallquelle ist eine große Richtungstreue des
gesamten signals unabhängig der jeweiligen
Pegelverhältnisse gegeben. Dies ist ein Vorteil,
der besonders bei stereoaufnahmen von Instru­
menten in großen Räumen von großer Wichtigkeit
ist. Je nachdem, wie stark/laut man das seiten­
signal in der Mischung einsetzt kann die stereo­
breite des gesamten signals auch nach der auf­
nahme flexibel den individuellen anforderungen
entsprechend reguliert werden.
nen Phasen aus und wird allgemein als M/s­
Decoding über summen­/Differenzverstärker
oder eine sogenannte M/s­Matrix bezeichnet.
Viele Plugins oder Hardware­Geräte bieten diese
Funktion in einfach zu handhabenden oberflächen
und Parameter an. Jedoch lässt sich eine für den
Decoding­Prozess erforderliche M/s­Matrix auch
recht einfach mit den Mitteln der eigenen DaW
oder des eigenen Mischpults realisieren, wobei
eine selbstgebaute Lösung oftmals noch flexible­
re Eingriffsmöglichkeiten in die angestrebten
Pegel­ und Panoramaeinstellungen bietet.
Für das Encoding werden drei Mono-Kanal-
züge des virtuellen oder analogen Mischpults
benötigt, die alle sowohl über einen Phasen-
umkehrschalter und einen Panoramaregler
verfügen sollten:
Das M­signal des Kugel­ oder Nierenmikrofons
wird auf den ersten Kanalzug geroutet, wobei des­
sen Panoramaregler in der Mitte verbleibt. Der
output dieses Channels wird auf den Master­Fader
oder die entsprechende stereo­subgruppe geführt.
Das s­signal muss nun gesplittet oder dupli­
ziert auf die beiden verbleibenden Mono­Kanal­
züge geroutet werden. In der virtuellen DaW ist
dies recht einfach zu realisieren, hardwareseitig
muss man wohl oder übel mit speziellen signal­
splittern oder Direct­outs des Mikrofonvorver­
stärkers eine Lösung realisieren.
Das erste s­signal wird im Panorama ganz
nach Links geregelt und dessen output auf den
Master (oder die subgruppe) geführt.
Das zweite, duplizierte s­signal wird im Pano­
rama ganz nach rechts geregelt und zusätzlich
über den Phasenumkehrschalter um 180° in der
Umwandlung der beiden
Mikrofon-Signale in links
und rechts
Um die durch die spezielle M/S-Mikrofon-
ierung entstandenen Mid-/Side-Signale in
ein normales Links/Rechts-Format zu über-
tragen
und über ein stereo­Lautsprechersetup
wiedergeben und abhören zu können, müssen M
und s zurück in linke und rechte signalanteile
gewandelt werden. Dies geschieht durch eine
summen­ und Differenzbildung der M­ und s­
Kanäle nach folgendem recht einfachen Prinzip:
Linker Kanal = M + S
Rechter Kanal = M - S
Der Vorgang nutzt die unterschiedliche Be­
handlung der den verschiedenen signalen eige­
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Phase gedreht. Danach wird es ebenfalls auf den
stereomaster (oder die subgruppe) geroutet.
Durch die Panoramastellungen der S-Kanäle
und die Umkehrung der Phase wird die oben
beschriebene Formel erfüllt, wodurch ein
vollwertiges Links/Rechts-Signal auf dem
Masterfader entsteht.
Voraussetzung dafür
ist, dass alle Pegel der drei Mischpultkanäle
identisch sind, da sonst die Verhältnismäßigkeit
der Mitten­ und seiteninformationen unterein­
ander verändert werden würde. Entscheidet man
sich dagegen für ungleiche Pegelverhältnisse
der M­ und s­Kanäle kann je nachdem, ob man
eher die Mitten­ oder seiteninformationen in
den Vordergrund fährt die Direktheit und die
Breite des stereosignals flexibel angepasst wer­
den. Der angesprochene Vorteil der absoluten
Monokompatibilität wird bei dieser Überlegung
»
ambiences im sogenannten Fieldrecording oder
von stereoton bei der Film­ oder Hörspiel­
vertonung profitieren von der angesprochenen
Flexibilität im nachträglichen Umgang mit der
stereobreite des aufgenommenen Materials.
Die dabei gleichzeitig gewährleistete Dirketheit
und Monokompatibilität der aufnahmen ma­
chen die M/s­Mikrofonie zum perfekten Recor­
dingverfahren für die simultane aufzeichnung
von sprachdialogen oder mittigen Hauptsig­
nalen und den in stereo abgebildeten Umge­
bungsgeräuschen, in welche diese eingebettet
sind. Insbesondere während der Filmtonmischung
in der sogenannten Postproduction schätzt
man die flexible und unabhängige Verfüg­
barkeit der Mitten­ und seitensignale und
nicht zuletzt die verlässliche Monokompatibilität
bei der Wiedergabe auf monophonen Fern­
sehgeräten.
M/S bietet für viele Mikrofonierungsaufgaben deut-
liche Vorteile gegenüber den klassischen Methoden.«
Aber auch die Abnahme von Instrumenten
während einer Musikproduktion kann aus
denselben genannten Gründen von Vorteil
sein
und stellt beispielsweise für die Raummikro­
fonierung, dem Recording von Drums aber auch
von allen möglichen Einzelinstrumenten, deren
Klangcharakter im stereobild möglichst natürlich
abgebildet werden soll eine uneingeschränkt emp­
fehlenswerte alternative dar. Wie bei allen vorge­
stellten themen der Producers secrets gilt auch
für die M/s­Mikrofonie: Es lohnt sich durchaus,
mit dieser Methode im eigenen studio zu experi­
mentieren und so seine Recording­Erfahrungen
zu machen. Nur so könnt ihr ein Gefühl für die
stärken und schwächen der M/s­Mikrofonierung
entwickeln und sie zukünftig je nach anfor­
derungen in eurem studioalltag als neuerlerntes
Handwerkszeug zur Verwirklichung eurer sound­
vorstellung einsetzen.
Norman Garschke
sehr deutlich und anschaulich: Reduziert man
das seitensignal sehr stark im Pegel oder schal­
tet es gar aus, bleibt trotzdem ein vollwertiges,
direkt auf die schallquelle ausgerichtetes
Monosignal erhalten.
M/S-Mikrofonie –
wer brauchts?
Neben den etablierteren Stereo-Mikrofon-
ierungstechniken A/B, X/Y oder ORTF scheint
das M/S-Verfahren etwas in Vergessenheit
geraten zu sein und kommt leider ver-
gleichsweise selten in der täglichen Studio-
Praxis zum Einsatz.
Für viele toningenieure
wirkt es aufgrund der erforderlichen En­ und
Decodierung komplexer und weniger praktika­
bel als die alternativen Verfahren. Dabei bietet
M/s für viele Mikrofonierungsaufgaben deut­
liche Vorteile gegenüber den klassischen
Methoden. Besonders aufnahmen von stereo­
Autor: Norman Garschke
Die HOFA-Studios zählen seit über 20 Jahren
zu den größten und beliebtesten professionel-
len Tonstudios in Deutschland und bieten mit
HOFA-Training ein staatlich zertifiziertes, mo-
dulares Ausbildungskonzept im Audio-Bereich
an. HOFA-Audio-Engineer Norman Garschke
ist erfahrener Produzent, Musiker und Autor
des Fernkurses HOFA-Training BASIX.
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